Was motiviert ein Theater heutzutage noch, eine Klamotte wie „Der Raub der Sabinerinnen“ der Brüder Schönthan aus dem Jahr 1883 auf die Bühne zu bringen? Nun, Intendant Anselm Weber vom Schauspiel Frankfurt erklärte das in schöner Offenheit als eine Notmaßnahme während der Pandemie, als die Theater sich für längere Zeit – eventuell irreversibel? – zu leeren schienen. Man zielte damit auf ein breites Publikum, das in erster Linie leichte Unterhaltung sucht und bei einem solchen Stück die Hemmschwelle zum Theater leichter überwinden würde. Es ist dem Schauspiel Frankfurt hoch anzurechnen, dass man zu dieser Entscheidung auch noch stand, als sich die Theater wieder zu füllen begannen und schließlich wieder volle Auslastung erreichten, so die 95% im Schauspiel Frankfurt im Januar 2024, wie Weber bei der Einführung stolz verkündete. Hoch anzurechnen deswegen, weil man sich nicht beeilte, den intellektuellen Tiefflug bei der damaligen Entscheidung nicht peinlich berührt wegzuwischen, sondern bewusst dazu zu stehen und auch einem solchen „Schwank“, wie die offizielle Bezeichnung lautet, eine Bühnenchance zu geben. Allerdings betonte Weber, dass eine solches Stück besonders gute Schauspieler benötigt, will es nicht in gähnender Peinlichkeit enden.
Nun, diese Schauspieler hat das Schauspiel Frankfurt zweifellos, und denen machte dieser Abend offensichtlich Spaß. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass Komödien im vielfach konnotierten Bewusstseinsstress der letzten zwei Dekaden selten geworden sind und Lachen fast schon als politisch inkorrekt erscheint. Und mit dem Premierentermin zwei Tage vor Rosenmontag hatte man sich augenzwinkernd einen intellektuellen Freifahrtschein gesichert. Die Regie dieser Slapstick-Komödie übernahm Christina Tscharyiski.
Die Handlung des Stücks ist überschaubar, wenn auch im Detail beliebig kompliziert – und absurd. Professor Gollwitz (Isaak Dentler) hat während des Kuraufenthalts von Frau und Tochter beim Aufräumen seiner Bibliothek ein altes Manuskript aus Studententagen entdeckt, in dem er den „Raub der Sabinerinnen“ als römische Tragödie gestaltet hatte. Nostalgisch gesinnt liest er es der sentimentalen Haushälterin Rosa (Heidi Ecks) vor, die sofort in tränenreiches Entzücken versinkt. Als dann der aufgedrehte Wanderbühnen-Direktor Striese (Wolfram Koch) zwecks Akquisition honoriger Zuschauer ins Haus fällt, tischt Rosa ihm diese Neuigkeit brühwarm auf. Striese sieht sofort die Riesenchance, mit dem Stück eines ortsansässigen „Professors“ das Zelt tage- wenn nicht wochenlang zu füllen, und überredet den zögernden Gollwitz, der Inszenierung zuzustimmen.
Nun beginnt das in solchen Schwänken übliche Verwirrspiel um unzureichendes oder falsches Personal im Theater, um Streichungen und Änderungen des Textes und nicht zuletzt um Geheimhaltung. Denn Gollwitz´ dem Theater abgeneigte Gattin darf um Gottes Willen davon nichts erfahren, weshalb Gollwitz ihr auch postalisch eine Verlängerung der Kur empfiehlt. Doch stattdessen erscheint sie zu früh, und das Chaos nimmt seinen schicksalhaften Lauf, mit allen Verwirr- und Verwechslungsmöglichkeiten, die man sich ausdenken kann. Als Beispiel seien nur die 500 Mark erwähnt, die einer der Protagonisten einem anderen zwecks Begleichung von Schulden leihen muss, und die nach einer kurzen Wanderschaft durch das halbe Personentableau wieder genau bei ihm landen. Alles natürlich stets mit den hochheiligen und schon beim Aussprechen als falsch erkannten Schwüren der baldigen Rückzahlung.
Im Mittelpunkt der Handlung steht Theaterdirektor Striese, dem Wolfram Koch die Aura eines überdrehten Idealisten mit mehr als einem Hauch von Scharlatan verleiht. Er kennt keinen Moment der Ruhe und ist sowohl verbal als auch körperlich von höchster Agilität bis hin zur Selbstverdrehung in jeder Hinsicht. Ständig verliert er sich im Gestrüpp seiner Argumente und findet den Ausgang aus dem rhetorischen Labyrinth nur mit viel surrealistischer Kreativität. Glücklicherweise sind die Gegenüber in solchen Komödien nie gnadenlose Intellektuelle, die den logischen Unsinn dekonstruieren, sondern offenen Mundes staunende Zeitgenossen mit der Aufgabe, als Stichwortgeber die komische Wirkung dieser Tiraden noch zu steigern.
Neben ihm spielt Isaak Dentler einen von der gegenläufigen Vielfalt der Ereignisse heillos überforderten Gollwitz, der hilflos von einem zu stopfenden Gefahrenloch zum nächsten stolpert und dennoch immer wieder scheitert. Wenn Koch und Dentler miteinander agieren, ist das jedes Mal ein Fest des zwischenmenschlichen Slapsticks mit allen seinen Tücken und Fallen. Christoph Pütthoff gibt einen so jugendlich arroganten wie schreckhaften „Doktor“, der als Gollwitzens Schwiegersohn permanent unter dem Pantoffeln seiner Frau Marianne (Manja Kuhl) kuscht, die wiederum sich wie ein Vamp winden und drehen kann, wenn sie Informationen von einem jungen Mann erschleichen will. Christina Geiße ist Gollwitzens herrschsüchtige Ehefrau Frederike, die aber im Zweifelsfall auch nahe an Wasser gebaut hat, und Annie Nowak ihre zweite Tochter Paula, die schnell ihre naive Fassade abgelegt und kräftig in dem Intrigenstadl mitmischt. Bleibt noch Michael Schütz zu erwähnen, dessen Karl Grob eigentlich gar nicht in das Stück um die Gollwitz-Tragödie passt, aber um des zu steigernden Witzes willen aus der Leipziger Ferne viel Verwirrung in die Gollwitz-Familie trägt.
Dass es am Ende trotz der hereinbrechenden Bühnenkatastrophe zu einem „Happy Ende“ kommt – man verzeihe dem Rezensenten dieses Anglizismus -, versteht sich von selbst, soll hier jedoch nicht im Detail verraten werden. So viel lässt sich jedoch sagen: wer in diesen krisenhaften Tagen einen Theaterabend ohne jegliche kritische, provokante, politisch korrekte und „woke“ Aufklärung verbringen und dabei noch ohne ängstliche Begutachtung des Witzniveaus lachen will, der sollte sich diese Komödie anschauen. Allein Wolfram Kochs verbale und corporale Artistik lohnen den Besuch. Man gönnt sich ja sonst nichts!
Das Premierenpublikum sah es offensichtlich auch so und spendete begeisterten Beifall – ach so: ein kurzes „BUH“!
Frank Raudszus
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