Die nach über fünfundzwanzig Jahren erste Neuinszenierung von Richard Strauss´ Oper „Elektra“ in Darmstadt steht nicht isoliert im Jahresprogramm, sondern ist als Pendant zu Chaya Czernowins erst vor zwei Wochen Premiere feiernder „Pnima“ zu verstehen, da es in beiden Stücken um unbewältigte Traumata geht. Während „Pnima“ seinen Anlass ganz konkret in einer schrecklichen Gegenwart findet, greift Hugo von Hofmannsthals auf Sophokles´ gleichnamiger Tragödie aufbauende „Elektra“ weit zurück in die Mythen der griechischen Antike.
Sophokles sah noch das von den Göttern gelenkte und von den machtlosen Menschen zu ertragende Schicksal als existentielle Lebensgrundlage des Menschen, Hofmannsthal dagegen stellte als Zeitgenosse Sigmund Freuds die Untiefen der menschlichen Psyche in den Vordergrund. In seinem Libretto nehmen die Götter keinen Platz mehr ein, sondern urmenschliche Gefühle wie Rache, Hass und Ehre. Bei der Durchsicht des Programmhefts erscheint der Hinweis auf Agamemnons Missbrauch seiner eigenen Tochter aufgesetzt, weil in keinem Zusammenhang mit dessen Ermordung durch Klytemnästra stehend. Doch während Elektras zweistündiger seelischer Selbstenthüllung schält sich der Zusammenhang immer deutlicher heraus. Der Missbrauch hat tiefe Spuren bei ihr hinterlassen und jegliche Liebe zum Vater getötet. Der latente Hass auf die Eltern – sprich: Vater – richtet sich dann gegen die Mutter, die zusammen mit ihrem Liebhaber den Ehemann ermordet hat. Elektra müsste diese Untat sogar in gewisser Weise verstehen, hat doch Agamemnon aus strategisch-politischen Gründen Elektras Schwester Iphigenie geopfert und damit den Hass seiner Frau Klytemnästra auf sich gezogen. Doch Elektra braucht ein Objekt für ihren tief sitzenden Hass und findet es in der „klassischen“ Gattenmörderin.
Mit ihrem Hass hat sich Elektra am immer noch königlichen Hof Klytemnästras isoliert und führt ein Schattenleben wütender Anklagen, doch bringt sie den rächenden Akt – ähnlich Hamlet, wie Karsten Wiegand bei der Vorstellung hellsichtig bemerkte – nicht zustande. Sie wartet und hofft auf Orest, den Klytemnästra schon früh weggegeben hat, wohl auch in einer mit Geld gefütterten Hoffnung auf dessen frühen Tod.
Ein düsteres Bühnenbild mit zwei übergroßen, beweglichen Wänden und punktueller Beleuchtung setzt gleich zu Beginn den Deutungsrahmen. In dieser Enge und Bedrohung suggerierenden Umgebung steht Elektra (Elena Batoukova-Kerl) in einem der Antike nachempfundenen schwarzen Gewand wie eine stolze Märtyrerin und überlässt es während der ersten Szene – eine Ouvertüre gibt es nicht – den in den dunklen Nischen an den beiden Bühnenseite postierten Mägden, ähnlich einem antiken Chor dem Publikum die Situation nahezubringen. Elena Batoukova-Kerl trägt darüber hinaus wie alle anderen Familienmitglieder eine haarlose Hautperücke als Metapher dafür, dass dieser Familie das ein gelungenes Leben suggerierende Haar abhanden gekommen ist.
Ein besonderer Gag dieser Inszenierung sind die Geier, die über lange Strecken der Aufführung über der Handlung schweben. Karsten Wiegand setzte damit die Bemerkung Elektras, sie züchte einen Geier in sich, in einen Regieeinfall um. Geier töten nicht, sie warten nur auf den eintretenden Tod ihrer Opfer und kündigen eben diesen durch ihr frühzeitiges Eintreffen im Sinne einer „self fulfilling prophecy“ an. Man hat dazu fünf Artisten in Geierkostümen mit beweglichen Flügeln in den freien Raum über der Bühne gezogen und lässt sie dort an langen Seilen majestätisch drohend kreisen. Das übt einen geradezu ominösen Eindruck aus, wenn wir hier einmal das „Omen“ beim Namen nehmen wollen. Selbst der aufgeklärte Besucher des 21. Jahrhundert kann sich dieser stillen apokalyptischen Drohung nicht entziehen.
Auf der Bühne setzt sich Elektra leidenschaftlich mit ihrer Schwester Chrysothemis (Megan Marie Hart) auseinander, der sie erfolglos die Komplizenschaft bei der nach Orests vermeintlichem Tod selbst auszuübenden Rache an Klytemnästra ans Herz legt. Doch Chrysothemis steht für die Hoffnung auf eine erfülltes, die Traumata überwindendes Leben und lehnt ab. Der Höhepunkt der knapp eineinhalbstündigen Inszenierung ist jedoch die Auseinandersetzung mit Klytemnästra (Katrin Gerstenberger), die ganz andere Dämonen beherrschen. Einerseits sitzt ihr das schlechte Gewissen des Gattenmordes im Nacken, das auch der Bezug auf die Opferung der Tochter nicht zum Verstummen bringen kann. Andererseits hat sie geradezu physische Angst vor der von Rachegelüsten besessenen Elektra. Da spielt die Angst vor direkter Rache ebenso eine Rolle wie ein tiefsitzendes Verständnis für Elektras Haltung. Denn was war der Mord an Agamemnon anderes als Elektras Rachewünsche? In diesem emotional ausufernden Dialog, in dem Elektra unverkennbar den Triumph der sich im Recht wähnenden Rächerin ausspielt, kämpfen beide Protagonistinnen um die Deutungshoheit und den lebenshistorischen Sinn ihres Tuns. Und obwohl Klytemnästra sich gesellschaftlich in der Siegerposition befindet und durch Orests angeblichen Tod auch noch abgesichert ist, geht sie seelisch-moralisch als Verliererin vom Platz, da sie Elektra aus eigener Erfahrung nicht nur versteht sondern ihr ganz tief in in ihrer verzweifelten Seele auch noch Recht geben muss. Elena Batoukova-Kerl und Katrin Gerstenberger steigern sich in dieser Szene aneinander und sorgen für eine einzigartige psychologische und dramatische Dichte, wobei die orchestrale Musik von Richard Strauss sie nach allen Regeln der Kunst unterstützt.
Diese Musik stellt neben den darstellerischen und sängerischen Leistungen das zweite Standbein dieser kompromisslosen Inszenierung dar. Von Beginn an spiegelt sie das innere Chaos der drei Frauen – Orest (Georg Festl) spielt hier eher eine untergeordnete Rolle zwecks Fortführung und Abschluss der Handlung – mit dramatischen Motiven und hochkomplexen Verflechtungen wider und begleitet jede emotionale Wendung mit einer entsprechenden Harmonik und Phrasierung. Dabei spielen die Ausdrucksmöglichkeiten einzelner Instrumente – von schrillen Streichern zu auftrumpfenden Hörnern – eine zentrale Rolle, aber auch die gegeneinander kämpfenden Gefühle wie Angst, Rache, Hoffnung und Verzweiflung. Nahezu zwei Stunden lang zeichnet diese Musik das Innenleben der Bühnenfiguren in allen widerstreitenden Aspekten und Verästelungen nach, und als Zuschauer bzw. -hörer kann man sich diesem akustischen und visuellen Eindruck nicht entziehen, sondern wird hineingerissen in diese innere Hölle. Nach dem Verklingen der letzten Akkorde kann man sich nur langsam aus der emotionalen Beklemmung lösen, und der unmittelbare Gang zur Sektbar erscheint geradezu frivol und fällt daher aus.
Daran haben natürlich neben der Musik von Richard Strauss die Ausführenden auf der Bühne und im Orchestergraben ihren maßgeblichen Anteil. Allein die sängerische Belastung, diese wagnerianisch anmutenden Sprechgesänge – Arien oder Rezitative im herkömmlichen Opernsinne gibt es gar nicht – nahezu zwei Stunden lang zu intonieren, ist außergewöhnlich und erfordert höchste stimmliche Fähigkeiten, darstellerische Motivation und -ja: – Kondition. Die drei Sängerinnen verfügen über alle drei Stärken bis zum Schluss und spielen sie voll aus. Dabei ist vor allem Elena Batoukova-Kerl hervorzuheben, die während der gesamten Aufführungszeit auf der Bühne agiert, während Marie Megan Hart und Katrin Gerstenberger nur für begrenzte – wenn auch durchaus fordernde – Auftritte die Bühne betreten. Allen drei ist höchstes Lob auszusprechen, wobei Elena Batoukova-Kerl auch ihre Darstellung von Elektras changierendem, ambivalentem Charakter bis zum letzten Augenblick auf hohem Niveau hält.
Georg Festl beschränkt seine Darstellung des Orest dagegen bewusst auf dessen Rolle als „deus ex machina“, der zum Schluss für die Ausübung der Rache zuständig ist, aber selbst keine Gelegenheit mehr für seine Sicht der Dinge bekommt. Schließlich heißt die Oper „Elektra“ und nicht „Orest“. Matthew Vickers spielt den Aegisth in einem kurzen Auftritt als unbeteiligten Dritten und tritt als nicht vom Familienfluch Betroffener jovial im braunen Dreiteiler und mit Zigarre im Mund auf.
Das Orchester unter der Leitung von Daniel Cohen präsentierte Richard Strauss´ komplexe Musik bis zum letzten Ton mit höchster Konzentration, Präzision und interpretatorischer Dichte. Die Spannung ließ keinen Augenblick nach, und es ist nicht falsch zu behaupten, dass nicht zuletzt die Musik aus dem Graben das Geschehen auf der Bühne vorantreibt. Denn statt einer Handlung im herkömmlichen Sinn spielt sich dort in erster Linie eine sängerische und orchestral begleitete Öffnung einer inneren Hölle ab.
Das Publikum zeigte sich begeistert und spendete für das gesamte Ensemble mehr als kräftigen, lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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