Anne Rabes Roman „Die Möglichkeit von Glück“ stand 2023 auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis. Stine ist die Ich-Erzählerin des Romans, sie ist wie die Autorin 1986 in einer DDR-Kleinstadt an der Ostsee geboren. Die DDR selbst kennt sie nicht mehr aus eigenem Erleben, wohl aber aus ihrem Nachwirken auf das familiäre und gesellschaftliche Umfeld.
Nach ihrer „Flucht“ aus der Kälte in der Familie und der Enge der Provinz nach Berlin begibt Stine sich auf Spurensuche in ihrer Familiengeschichte. Sie will wissen, warum die Eltern und Großeltern so geworden sind, wie sie sind: hart und ohne Verständnis für Kinder, unfähig über die eigene Vergangenheit in der DDR-Diktatur wie auch im Nationalsozialismus zu sprechen. Schweigen und Verdrängen scheint die Strategie der Erwachsenen zu sein, um sich mit der eigenen Lebensgeschichte arrangieren zu können.
In Berlin baut sich Stine eine eigene, bürgerliche Welt auf mit Partner und zwei Kindern, die sie ganz anders erziehen will, als sie es selbst erfahren hat. Und sie will schreiben, sich klar werden über ihre frühen Prägungen, die sie immer noch verfolgen: Schuldgefühle gegenüber der Familie, Angst, alles falsch zu machen, Angst vor der immer noch übergriffigen Mutter.
So hat der Roman zwei Ebenen. Da ist zunächst der Erinnerungs- und Nachforschungsprozess, mit dem sie verschüttete Spuren der Vergangenheit aufzudecken versucht. Parallel dazu beginnt sie mit ihrem Roman, den sie auf „Erika“, der alten Schreibmaschine ihres Großvaters Paul, noch ganz analog tippt. Die Romanpassagen im Roman sind schräg gedruckt und haben eine andere Erzählhaltung. Hier spricht sich die Erzählerin in der 2. Person selbst an; die schreibende Ich-Erzählerin betrachtet sich damit selbst als die beschriebene Figur und schafft auf diese Weise eine reflexive Distanz zu sich selbst. Als Leserinnen nehmen wir damit teil an dem Entstehungsprozess des Romans.
Was zunächst wie Doppelung des Erzählten erscheint, erweist sich als eine reflexiv durchdrungene Verdichtung des tatsächlich Erlebten.
Um sich selber besser zu verstehen, beleuchtet Stine insbesondere die eigene Mutter, die ihren beiden Kindern, Stine und dem jüngeren Bruder Tim, mit besonderer Härte begegnet. Es gibt keine Zärtlichkeiten, keine Herzlichkeit, sondern Ablehnung bis Hass. Die Mutter hat selbst im DDR- Erziehungssystem als Erzieherin gearbeitet, offenbar auch in einem der berüchtigten Jugendwerkhöfe.
Stines Roman beginnt mit einem Stimmungsbild von der kleinen Hafenstadt an der Ostsee, Ende der 80ger Jahre, wie sie sich noch erinnert: der Hafen, die Kräne, aber auch die Ruinen der großen Kirchen, Kopfsteinpflaster, ärmliche Wohnungen ohne Toilette und Bad. Dann der Aufstieg zu drei Zimmern mit Küche, Bad und separater Toilette, das Lebensumfeld der Eltern, so verschieden von ihrem eigenen Leben im Berlin der 2000er Jahre. So verschieden aber auch die Geburtssituationen. Wie sie aus Erzählungen weiß, war ihre Mutter umgeben von herrischen Hebammen, die verkündeten, man müsse bei der Geburt nicht schreien. Geburt als technischer Akt. Die Neugeborenen werden sofort von den Eltern getrennt und können nur durch eine Glasscheibe betrachtet werden. Wie anders erlebt Stine die Geburt ihres ersten Kindes. Entgegen der mütterlichen Anweisung brüllt Stine den Schmerz heraus, um dann ihr Kind selbst im Arm zu halten. Erst die Erfahrung mit dem eigenen Kind macht ihr schmerzlich bewusst, wonach sie sich immer gesehnt hat. Sie stellt sich vor, dass sie als ganz kleines Wesen ihre Mutter auch angelacht hat und auf das Lachen der Mutter gehofft hat, es aber nicht bekommen hat: „Es muss etwas anders gewesen sein zwischen Mutter und dir.“
Die Geburtssituation erscheint als der Urgrund für eine bis ins Erwachsenenalter zerrüttete Mutter-Tochter-Beziehung, in der auch der Vater nicht fähig oder nicht willens ist, die Tochter vor der Mutter zu schützen.
Wie das sein kann, versucht Stine in der Suche nach der Familiengeschichte zu verstehen. Dazu gehört nicht nur die Erziehungsideologie der DDR, in der die Eltern sich als absolut linientreu erweisen. Dazu gehört auch die Lebensgeschichte der Großeltern, die vom Nationalsozialismus geprägt ist. Dazu gehört die Erziehung zur „Lebenstüchtigkeit“ durch Härte. Stines Mutter hat selbst keine Liebe erfahren, deshalb kann sie auch keine Liebe geben. Sie hat die Härte zu ihrer Lebensform gemacht. Kindheit als zu schützendes Lebensalter ist darin nicht vorgesehen.
Nur für ihren Großvater Paul empfindet sie Zuneigung, von ihm erfährt sie auch Liebe. Aber auch der Großvater schweigt über seine Vergangenheit. Nach der Wende klagt er gegen seine Einstufung als „staatstragend“, was für ihn berufliche Einschränkungen und Abstriche bei der Rente bedeutet. Stine geht nun diesem Leben nach, indem sie sich durch Archive und durch Personalakten wühlt, um herauszufinden, welche Rolle der Großvater im System DDR gespielt hat. An den verschiedensten Stellen wird deutlich, dass er sich dem System angedient hat, gleichzeitig aber nie die Positionen erhalten hat, die er sich erhofft hat. Er ist ein Enttäuschter, der sich nach außen seine eigene Lebensgeschichte zusammenbastelt, ohne wahrhaftig zu sein.
Es ist das Verdienst von Anne Rabe herauszuarbeiten, wie sich die seelischen Verkrüppelungen der Erwachsenen in mehreren Generationen durch die Abfolge zweier diktatorischer Systeme auf die nachfolgenden Generationen auswirken. Sogar Kinder- und Jugendfreundschaften werden in diesem System zerrieben, so dass es auch in diesem Bereich keine wirkliche Nähe geben kann. Einer Freundin etwas anvertrauen zu wollen, kann wie ein Bumerang sein, weil die Kinder ebenfalls Produkte des Systems sind.
Anne Rabes Roman scheint zunächst ein weiterer Roman über die DDR zu sein, über die ich als Leserin meine genug gelesen zu haben. „Die Möglichkeit von Glück“ erweist sich jedoch als eine subtile Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Familie und Gesellschaft. Dabei bleibt die Erzählerin Stine bzw. die Autorin auf der analytischen Ebene, ohne die Eltern oder Großeltern anzuklagen. Sie diagnostiziert, wie es war, und versucht zu verstehen, warum es so war. Der Titel verweist auf die Hoffnung, es selbst mit den eigenen Kindern anders machen zu können, ihnen Liebe geben zu können und ihnen so „ Die Möglichkeit von Glück“ zu schaffen, was den Eltern und Großeltern offenbar verwehrt war.
„Die Möglichkeit von Glück“ ist ein durchaus empfehlenswerter Roman mit sehr eindringlichen Passagen. Eine der stärksten Episoden ist die Bestrafung der 14-jährigen Stine für ein Fehlverhalten dem Lehrer gegenüber. Die Mutter spricht über viele Wochen überhaupt nicht mit der Tochter, ignoriert sie völlig. Wie vernichtet, schuldig, hilflos und völlig ihres Selbstwerts beraubt sich das Mädchen fühlt, erzählt Anne Rabe mit höchster Sensibilität. Allein für diese Episode lohnt sich die Lektüre.
Der Roman ist im Klett-Cotta Verlag erschienen, hat 384 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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