Temporeiche Collage der Angst

Print Friendly, PDF & Email

Irmgard Keun emigrierte 1936 aus politischen Gründen nach Ostende und verfasste dort den Roman „Nach Mitternacht“, in dem sie das angstbesetzte Leben im nationalsozialistischen Deutschland Mitte der dreißiger Jahre aus eigener Anschauung am Beispiel der jungen Sanna schildert.

Wolfgang Vogler mit Ensemble

Sanna ist in einem Dorf an der Mosel aufgewachsen und nach dem Tod der Mutter zur Tante nach Köln gezogen. Im Jahr 1936 besucht sie für zwei Tage Verwandte in Frankfurt, wo gerade der Besuch des „Führers“ stattfindet. Die Frankfurter Freunde und Verwandten bilden ein enges Geflecht von Freundschaft und Liebe, wobei sich einzelne zentrale Personen herausschälen. Sannas älterer Bruder Algin ist mit Silka zusammen, kümmert sich jedoch kaum noch um sie, da er als kritischer Journalist von den Nazis verfolgt wird und nicht weiß, ob er sich diesen andienen oder gegen sie kämpfen soll. Seinem altem Freund und Kollege Heini geht es ebenso, doch der will gegen das System kämpfen und wirft Algin Feigheit vor. Silka verliebt sich in Heini, doch der liebt eher den Alkohol und die engagierte Rede. Vorbild in jeder Hinsicht für diese Figur dürfte Joseph Roth gewesen sein, den Irmgard Keun in Ostende kennen und lieben lernte. Doch im Roman erschießt sich Heini am Schluss.

Um diese zentralen Figuren ranken sich eine ganze Reihe weiterer Personen, die das Bild des deutschen Bürgertums in den mittleren dreißiger Jahren abrunden, sei es der fanatische SA-Mann, Sannas so intrigante wie denunziante Tante Adelheid, der opportunistische Regierungsrat oder die peinliche weil harmoniesüchtige Freundin Gerti.

Ensemble

Regisseurin Barbara Rürk verzichtet von vornherein auf eine handlungsorientierte Nacherzählung des Romanstoffs. Sie bevorzugt eine collagenartige Verteilung der Rollen auf das gesamte Ensemble, wobei etwa Sanna über sechs Ensemblemitglieder verteilt wird. Dasselbe gilt auch für andere Rollen, wenn auch nicht im gleichen Maße. Die verschiedenen Zeitebenen – Köln als Rückblende und Frankfurt als Handlungsebene – vermischen sich bewusst und lassen sich im szenischen Augenblick bisweilen nur am lokalen Dialekt identifizieren.

Das siebenköpfige Ensemble – fünf Männer und zwei Frauen – tragen durchweg weibliche Kleidung und bringen somit einen feministischen Zug in die Inszenierung, ohne diesen jedoch dem Text überzustülpen. Man darf annehmen, dass die Regisseurin dies als Maßnahme gegen die latente männliche Dominanz in der Literatur und auf dem Theater meint und außerdem auf die weibliche Verfasserin hinweisen möchte. Das hat dann auch zur Folge, dass die Rollen beliebig auf die Geschlechter verteilt werden. So spielt etwa Uwe Zerwer die böse Tante Adelheid im Küchenkittel und zieht sich für die Darstellung des SA-Mannes nur eine braune Jacke über. Ähnlich leicht wechselt Michael Schütz vom bräsigen Herrn Kulmbach zur biederen Frau Breitwehr. Michael Vogler dagegen changiert über weite Strecken zwischen der herben Gerti und dem verzweifelten Algin. Nur Melanie Straub und Christina Größe können sich über lange Zeit als Silka bzw. Sanna entfalten und diesen beiden Figuren eine gewisse Stabilität verleihen. Das kann dann gegen Ende auch Michael Schütz als aus politischer Verzweiflung sich zum Alkohol flüchtender Heini. Christoph Pütthoff dagegen muss mit minimalen Kostümwechseln in bis zu sieben Figuren schlüpfen, was schon einige darstellerische Akrobatik verlangt. Markus Reschtnefki liefert als Kellner statt Biergläser am Klavier Impromptus verschiedener Komponisten bis hin zum Jazz ab und gibt nebenbei auch noch den unglücklichen jüdischen Arzt Dr. Breslauer, der ebenfalls die Emigration wählt.

Uwe Zerwer und Christoph Pütthoff

Die schnellen Szenen und Figurenwechsel erschweren zwar das Handlungsverständnis, aber darum geht es in dieser Inszenierung nur sekundär. Viel wichtiger sind die Befindlichkeiten, die Ängste und die wachsende Unsicherheit aller Figuren, die aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem neuen System immer weniger wissen, was sie noch glauben oder sagen können. Die einen versinken im Fatalismus, die anderen im Alkohol, und noch andere retten sich in den Opportunismus. Dabei bilden die männlichen Figuren die Extreme bei der Reaktion auf die existenzielle Verunsicherung, während die Frauen immer wieder nach pragmatischen Lösungen suchen. Die junge Sanna sucht sich einen Weg durch die Katastrophe der Gesinnungen, und Silka jagt immer noch dem bürgerlichen Glück hinterher. Ein Stück schwarzer Humor schimmert trotz der sich stetig verschlimmernden Lage immer wieder durch, wobei gerade die Frauen bestrebt sind, ein Stück Normalität zu bewahren.

Das das Stück 1937 entstanden ist, konnte die Autorin nicht das wahre Ausmaß der nationalsozialistischen Katastrophe ahnen, und von daher ist diese humoristische Komponente, die stets das bevorstehende Ende des Nazi-Unsinns als Möglichkeit mit einbezog, durchaus verständlich. Ähnlich betrachten wir heute die AfD und gehen davon aus, dass sie nie in Regierungsnähe kommt. In diesem Sinne hat das Schauspiel Frankfurt dieses Stück als Mahnung – wenn nicht Menetekel! – bewusst ausgewählt.

Das Publikum bedachte das Ensemble mit kräftigem Beifall, wir raten jedoch allen Interessenten, sich vor dem Besuch dieser Inszenierung mit dem Stoff zu beschäftigen. Das erleichtert das Verständnis dieses doch teilweise furiosen Stücks.

Frank Raudszus

No comments yet.

Schreibe einen Kommentar