„Mama Odessa“, der neue Roman von Maxim Biller, ist eine Hommage an seine Mutter, die 2019 verstorben ist. Rada Biller hat mit 72 Jahren ihren ersten Roman veröffentlicht, danach noch drei weitere.
In Billers Roman kreist alles um Ela, die Mutter des Protagonisten Mischa, ganz offenbar das alter ego von Maxim Biller. Mischa versteht erst sehr spät das Talent seiner Mutter und muss erkennen, dass er die Schriftstellerei von ihr gelernt hat. Sie ist wütend, wenn er in seinen Romanen ihre Geschichte verarbeitet. Er habe ihren Stoff „geklaut“, er solle lieber über sich selber schreiben. Um schreiben zu können, müsse man sich gar nichts ausdenken, der Stoff ergebe sich aus allem, was man selbst erlebt habe. Sie veröffentlicht mit 72 Jahren mit seiner Hilfe ihr erstes Buch mit Erzählungen über ihr Leben in Odessa und über ihren Vater. Es wird ihr einziges Buch bleiben. Obwohl sie ständig weiterschreibt, reicht es nicht mehr für eine weitere Veröffentlichung. Erst nach ihrem Tod wird der Sohn die letzten Erzählungen finden.
Die Geschichte seiner Familie ist eine Geschichte der Neuanfänge und des Lebens als jüdische Familie in Deutschland, die von ihren Sehnsüchten beherrscht wird.
Die Mutter wird sich Zeit ihres Lebens nach Odessa zurücksehnen, wo sie ihren Vater zurückließ. Nur auf Drängen ihres Mannes, des Zionisten Gena, war sie bereit, die Sowjetunion zu verlassen und dem Ruf des Freundes Lassik nach Hamburg zu folgen.
Hamburg ist eine Notlösung, die zur Dauerlösung wird. Die Lebenssehnsucht des Vaters ist ein Leben in Tel Aviv, wohin ihn die sowjetischen Behörden jedoch nicht ausreisen ließen. Die Mutter lebt in der Erinnerung an das verlorene Odessa und an den verlorenen Vater.
Beide, der Vater wie auch die Mutter, sind heimatlos, beide mit dem Gefühl, nicht ihr eigenes Leben führen zu können. Das überträgt sich auf den Sohn Mischa, der sich zunächst in Hamburg durchbeißen muss und möglichst schnell seinen russischen Akzent ablegen muss, um den Hänseleien der Klassenkameraden zu entgehen. München wird die einzige Stadt, in der er sich wohlfühlt, die er aber dennoch für Berlin verlässt, obwohl er diese Stadt nicht mag. So ist auch er ohne Heimat, denn an Odessa hat er nur noch schemenhafte Erinnerungen.
Anders ist es um Lassik, den ehemals besten Freund des Vaters, bestellt. Er ist einer, der sich schnell anpasst an das neue Leben in Deutschland, der sich und seine Geschichte gut verkaufen kann und überall, insbesondere bei den Frauen, gut ankommt. Doch auch er hat ein Lebensthema. Es ist das Massaker von Odessa, bei dem am 9. Oktober 1941 25.000 Juden, eingesperrt in eine Kirche, verbrannten. Er engagiert sich nach dem Zerfall der Sowjetunion für ein Denkmal für die ermordeten Menschen von Odessa. Die Fertigstellung wird er jedoch nicht mehr erleben.
Und dann ist da noch Martha, die Nachbarin der Mutter. Martha ist das Kind einer Jüdin, die von einem Deutschen versteckt wird, aber auch missbraucht wird. Martha treibt ihre Geschichte als Tochter einer verbitterten und gewalttätigen Mutter um, bis sie das in einem Roman verarbeiten kann.
Alle Figuren dieses Romans kämpfen um ihre jüdische Identität, die jeder und jede anders definiert. Auch der Sohn Mischa, der ganz der Gegenwart verpflichtet ist und weder mit den nostalgischen Erinnerungen der Mutter noch mit den zionistischen Sehnsüchten des Vaters etwas anfangen kann, kennt das Fremdheitsgefühl als Deutscher unter Deutschen. Die Erfahrungen von direktem oder unterschwelligem Antisemitismus haben ihn den Menschen gegenüber misstrauisch gemacht, so dass er sich stets wappnet, um reagieren zu können. Etwa wenn ein Journalist ihm sagt: „Man mag euch nicht. … Euch Juden.“ Das soll eine freundliche Warnung sein.
Und es ist ein Roman über eine Mutter-Sohn-Beziehung, die voller Ambivalenzen und doch voller Liebe ist, ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, das beide auch auf dem Sterbebett der Mutter nicht aufgeben.
Maxim Billers Roman lässt uns als Leserinnen und Leser teilhaben an den inneren Spannungen, die Jüdisch-Sein in unserer Gesellschaft mit sich bringt, zumal in Zeiten wie den gegenwärtigen, in denen Antisemitismus sich nicht mehr versteckt, sondern offen bekennt. Biller macht es uns nicht immer leicht, ihm zu folgen, denn er springt in den Zeitebenen: von Odessa und dem jüdischem Leben in der Sowjetunion in die eigene Gegenwart in Berlin; von seinen eigenen Beziehungsschwierigkeiten zu den meist telefonischen Auseinandersetzungen mit der Mutter; von der Beziehung der Eltern in der Vergangenheit zu deren Situation in der Gegenwart nach der Scheidung. Vieles bleibt unaufgearbeitet in der Beziehung zwischen den Eltern, jeder interpretiert die Vergangenheit und die getroffenen Entscheidungen anders.
Gerade diese Vielschichtigkeit macht es Biller möglich, auch historisch einen weiten Bereich zu erfassen, etwa wenn er auf die Situation der Juden in der Stalin-Ära der Sowjetunion kommt. Es sei nur ein Glück gewesen, dass Stalin plötzlich gestorben ist, denn ein lebender Stalin hätte für viele entweder Verbannung nach Sibirien oder Ermordung bedeutet. Immer wieder wird auch von dem Giftanschlag erzählt, der den Vater treffen sollte, tatsächlich aber die Mutter traf.
Angesichts der Vergangenheit ist wohlgefälliges Gedenkreden für Mischa ein Grauen, er verweigert sich einer solchen Ansprache anlässlich der Eröffnung des Denkmals in Odessa.
Sperrig ist der Roman, wie wir es von Maxim Biller kennen. Aber authentisch in seiner kritischen Sicht auf seine Umgebung, auch wenn sie sich für freundlich hält.
„Mama Odessa“ ist ein Roman über das Schreiben und über die Literatur als Medium der Erinnerung, des Wachrüttelns und der Wahrhaftigkeit, die sich beschönigender Wohlgefälligkeit zu verweigern hat.
Ein wichtiges Buch für uns alle, gerade jetzt in Zeiten zunehmender antisemitischer Vorurteile.
Das Buch ist im Kiepenheuer&Witsch Verlag erschienen. Es hat 240 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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