Als der Norweger Jon Fosse im Oktober den Nobelpreis für Literatur erhielt, war mir dieser Name völlig unbekannt. Auch in den Buchhandlungen lagen Fosses Bücher nicht an exponierter Stelle aus, sondern mussten im Regal aufgespürt werden. Der Roman ist bereits im Jahr 2000 auf Norwegisch erschienen, auf Deutsch dann im Jahr 2003 im Rowohlt Taschenbuch Verlag. Bisher ist Fosse offenbar ein Geheimtipp gewesen.
Inzwischen habe ich den schmalen Roman „Morgen und Abend“ gelesen, vielmehr in fast einem Atemzug verschlungen.
Fosse lässt uns als Leserinnen am Gedankenstrom des einfachen Fischers Olai teilnehmen, der mit seiner Familie auf einer einsamen Insel vor der norwegischen Küste lebt.
Im ersten Kapitel geht es um ein Geburtserlebnis, um den „Morgen“ des Lebens. Olai erlebt die Geburt seines zweiten Kindes im Nebenzimmer des Geburtszimmers mit. Dieses zweite Kind ist ein ungeplanter Nachzügler, es gibt schon eine halbwüchsige Tochter. Wir werden in den Gedankenstrom hineingezogen, der Olais Ängste, aber auch seine Hoffnungen und Wünsche für dieses Kind in atemloser Folge ausdrückt. Fosses „erlebte Rede“ in der dritten Person ist so intensiv, dass ich mich als Leserin selbst mitten in diesem Strudel von Gedankenfetzen befinde und dieselben Ängste und Hoffnungen wie Olai mit durchlebe, so stark, dass ich ständig die Katastrophe erwarte. Aber es ist nur eine ganz normale Geburt mit gutem Ausgang.
Dann beginnt das zweite Kapitel, wieder als Gedankenstrom in erlebter Rede. Es dauert eine Weile, bis ich wahrnehme, dass der Sprecher nun nicht mehr Olai ist, sondern eben der Sohn Johannes, dessen Geburt wir gerade miterlebt haben.
Johannes ist inzwischen ein alter Mann, seine Frau ist gestorben, die sieben Kinder, bis auf eine Tochter in der Nähe, leben verstreut auf dem Festland. Es ist der Abend des Lebens. Johannes‘ Gedankenstrom vollzieht sich an einem Morgen, an dem ihm alles viel leichter fällt als in der letzten Zeit. Alle Routinen fallen ihm leicht, so dass er sich sogar vornimmt, noch einmal mit dem Boot hinauszufahren. Dabei geht ihm sein ganzes Leben durch den Kopf, das bei aller Bescheidenheit doch ein glückliches gewesen zu sein scheint.
So langsam dämmert es mir als Leserin, dass Johannes sich jetzt am anderen Ende seines Weges befindet, dass wir ihn nun in seinem Sterbeprozess begleiten. Das ist wieder so intensiv, dass ich gar nicht aufhören kann zu lesen.
Fosse gelingt es, sich ganz in das Innere dieser beiden einfachen Menschen, des Fischers Olai und seines Sohnes Johannes, hineinzuversetzen. Wir nehmen so unmittelbar teil an den existenziellen Grenzsituationen von Geburt und Tod. Wie stark diese Erfahrungen auf Menschen wirken, ist offenbar ganz unabhängig von Bildung oder sozialem Status, vielmehr abhängig davon, wie sehr sie sich in ihrem familiären und weiteren sozialen Umfeld zu Hause fühlen.
Fosses Roman ist durchdrungen von der Liebe und Freundschaft unter den Menschen. Allerdings geht er gegen Ende des Romans über die in der Realität geltenden Lebensweisen hinaus. In Johannes‘ Sterbeszene wird die esoterische Seite des Autors sichtbar. Fosse hat offenbar die Vision von einer Welt jenseits des Todes, in der wir uns wieder begegnen und in der die Lebenden die Verstorbenen noch spüren können.
Das muss man nicht nachvollziehen können, doch es schmälert die große sprachliche und emotionale Eindringlichkeit des Romans in keiner Weise. Fosses Roman ist nicht unmittelbar gesellschaftskritisch oder gar politisch, das ist jedoch eine tiefer liegende Schicht seines Romans: eine Mahnung an das sogenannte aufgeklärte Bildungsbürgertum, Intelligenz und sozialen Status nicht zum Maßstab für ein glückliches und sinnvolles Leben zu machen. Die intensive Erfahrung existenzieller Situationen kann dadurch vielleicht sogar verstellt werden.
Ein unbedingt lesenswertes Buch. Ich bin gespannt auf weitere Bücher von Jon Fosse, der zurecht Nobelpreisträger ist.
Das Buch ist im Rowohlt Taschenbuch Verlag in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel erschienen. Es hat 122 Seiten und kostet 13 Euro.
Elke Trost
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