Die neue Produktion des Hessischen Staatsballett, vorgestellt unter dem Titel „gerade NOW“ als Premiere des Staatstheaters Darmstadt, folgt nicht den typischen Mustern des Tanztheaters. Im Gegensatz zu Schauspiel und Oper verzichtet das Tanztheater üblicherweise auf gesprochene – oder auch gesungene – Texte. Die gesamte Ausdruckskraft der künstlerischen Darstellung ist auf die Körpersprache konzentriert, von spontanen Lauten einmal abgesehen. Selbst die Mimik wird im heutigen Tanztheater minimiert, um nicht von der Aussage der Körperbewegungen abzulenken.
Das hat zur Folge, dass sich das moderne Tanztheater mangels sprachlich erzählbarer Geschichten auch kaum komplexen politischen Themen widmen kann, da diese sich selten mit bloßem Körperausdruck darstellen lassen. Dadurch reduziert sich die Thematik meist auf das emotionale Verhältnis des Einzelnen zu seiner Umwelt.
Diese Grundhaltung wird in „gerade NOW“ eindeutig gebrochen. Schon der Titel ist insofern programmatisch, als er einen Ausspruch der Klima-Aktivistin Greta Thunberg zitiert, in dem sie das klimatische Umdenken „gerade jetzt“ verlangte. Der zweite und längere Teil der neuen Produktion verhandelt dann die gegenwärtige politische Situation auf eine eher multimediale Art.
Doch am Anfang dieser Produktion steht die Choreographie „Midnight Raga“ von Marco Roecke. Als Grundlage dient der indische Raga, eine Musikgattung, die auf einer eher einstimmigen Melodie basiert und nicht die westliche Harmonie und deren Akkorde kennt. Dadurch entsteht eine schwebende Grundstimmung ohne die typischen westlichen Spannungseffekte, etwa durch die Dominante. Diese Fokussierung auf den einzelnen musikalischen Moment eignet sich ideal als Grundlage des Tanzes, weil der Körper der jeweiligen musikalischen Figur, sei sie melodisch oder rhythmisch, folgen kann.
Dazu traten bei der Premiere zwei Tänzerinnen auf, die nacheinander den schwebenden Gesang des Ragas körperlich nachempfanden. Da passt jede Handbewegung exakt zu einem Schlag des Rhythmusinstruments, und die Arme folgen der auf und ab führenden Melodie des Saiteninstruments. Dann wieder biegt sich der Körper wie die Melodielinie der Musik oder windet sich gar bei expressiveren Passagen. Beide Tänzerinnen bemühen sich dabei um eine einheitliche Grundstruktur ihrer Körpersprache und verzichten auf eine sich bewusst von der anderen Tänzerin distanzierenden Interpretation, bewahren dabei jedoch die Individualität der Interpretation.
Nach den beiden Solo-Tänzen zur Raga-Musik wechselt die Musik zu einem langsamen amerikanischen Rock-Song. Weil bei dieser Musik nun die westliche Harmonik eine Rolle spielt, treten die beiden Tänzerinnen als Duo auf, umspielen sich gegenseitig, erkunden durch Hand- und Armbewegungen die Körperstruktur der anderen, stehen mal sich gegenüber, mal hintereinander, aber stets in einer fast schon intimen Nähe, die das von Liebe und Sehnsucht handelnde Lied – wovon auch sonst? – körperlich ausdeutet, ohne damit auch nur einen Augenblick ins Intim-Nötigende zu verfallen. So intensiv hier das Verlangen nach der Körperlichkeit der anderen dargestellt wird, so deutlich kommt auch der Respekt vor deren Individualität zum Ausdruck.
Nach kräftigem Beifall und kurzer Umbaupause entsteht eine ganz andere Kulisse vor den Augen des Publikums. Von der Rückwand leuchtet der Titel „Of Prophets and Puppets“ dieser Choreographie des Franzosen Martin Harriague als blinkende Reklameschrift zu Disconebel ins Publikum, und ein eitler Moderator (Jorge Moro Argote) mit geschminkten Lippen begrüßt wortreich im typischen US-amerikanischen Showmaster-Stil ein imaginäres Fernsehpublikum – und das reale Theaterpublikum. Hier spielen nur die Unterhaltung und die Aufmerksamkeit eine Rolle. Und in diesem Stil begrüßt er auch den ersten Talkshow-Gast, Greta Thunberg, die als Gliederpuppe in Kindergröße von drei Puppenspielern auf die Bühne geführt wird. Sie antwortet – im Originalton! – auf seine Fragen wiederholt nur mit „it is wrong“, damit die ganze westliche und speziell die US-amerikanische Lebensart meinend.
Diese gefährliche Wendung zur Kritik redet der eitle Moderator schnell weg, und die Tanztruppe ergänzt seine Bemühungen mit einem typischen Showtanz und dem üblichen plakativen Lachen ins Publikum. Dann erscheint als monströse Puppe – in ihr ein Tänzer – Donald Trump, der – ebenfalls in „O-Tönen“ – und beginnt, von seinen vielen Talenten und den Lügen von Greta und ihren Anhängern zu schwadronieren. Natürlich geht es in dieser Choreographie nicht um die Inhalt dieses Diskurses, sondern eher um die gegensätzlichen Befindlichkeiten und Weltsichten der beiden Kontrahenten. Da darf dann auch etwas Slapstick-Humor nicht fehlen, so wenn Donald auf den Tisch springt und mit der Faust auf denselben schlägt, während Greta mit großen Augen und dem Wort „wrong“ zuschaut.
Das Ganze ist eine einzige Satire auf den amerikanischen Talkshow-Betrieb, präsentiert mit viel Witz und Tempo. Hin und wieder wird auch getanzt, aber stets nur in parodistischer Weise, sei es der Formationstanz der hübsch glitzernden Tänzerinnen oder die plakative Selbstinszenierung des Moderators. Wenn dann die beiden Protagonisten-Puppen die Bühne verlassen haben, bietet das Ensemble noch ein wenig Tanz in Einzel oder Paarformation, aber das hat wenig mit der Handlung dieser „Geschichte“ zu tun und dient wohl eher als Zugeständnis und Erinnerung an die Tatsache, dass es sich hier um ein Programm des Tanzensembles handelt.
So unterhaltsam und gesellschaftspolitisch treffend diese zweite Produktion auch daherkommt, hält sie sich tänzerisch doch in Grenzen. So musste in dieser Hinsicht die Choreographie von Marco Goecke diesmal die Akzente setzen, und das tat sie ja auch.
Das Premierenpublikum zeigte sich am Ende begeistert und feierte das Ensemble mit kräftigem Beifall.
Frank Raudszus
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