Spätestens seit Immanuel Kant diskutiert die Philosophie über die Frage, ob Tiere über ein Bewusstsein ähnlich dem menschlichen verfügen. Die zunehmende Bejahung dieser Frage führt denn auch zu entsprechenden Forderungen nach der Setzung von Tierrechten und – natürlich – einem Verzehrverbot.
Die Kunsthalle Darmstadt hatte passend zur laufenden Ausstellung „Animalia“ mit Werken zur Tierwelt die Lyrikerin Miriam Tag zu einer Lesung ihres neu herausgekommenen Buches „liebestier“ gebeten. Kunsthallen-Direktor Léon Krempel und der Schriftsteller Kurt Drawert befragten die Autorin im Anschluss an die Lesung über das gerade vorgestellte Buch.
Die studierte und promovierte Soziologin Miriam Tag versteht sich als „somatische Mystikerin“ und hat einen ganz eigenen Weg ins Innere des Tierlebens gewählt. Sie hat sich intensiv in die Tierwelt eingedacht, und das nicht nur mit mystischen oder meditativen Mitteln, sondern ganz prosaisch mit biologischen Recherchen zu allen in ihren Gedichten personifizierten Tieren. Denn zu Recht geht sie davon aus, dass die je besonderen körperlichen Eigenschaften und Fähigkeiten eventuelle Bewusstseinsprozesse maßgeblich prägen. Da Tiere sich nun einmal weder schriftlich noch mündlich – außer vielleicht Schmerzäußerungen – ausdrücken können, muss die Phantasie der Dichterin die Lücke zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und dem wahren Innenleben der Tiere schließen.
Das gelingt der Autorin außerordentlich einfühlsam und überzeugend, soweit man das mangels entsprechender Fakten beurteilen kann. Dabei spielt die Sprache natürlich die zentrale Rolle, und ebenso natürlich geht Miriam Tag dabei auch von dem menschlichen Innenleben aus, denn das ist das einzige, was sie – wie wir alle – kennt.
Allen Gedichten sind zwei Elemente gemein: zum Einen sprechen sie grundsätzlich in der ersten Person, wodurch sie die jeweilige Innenwelt umso authentischer gestalten. Dieses Tier-„Ich“ spricht dabei stets ein „Du“ an, das man als den Menschen oder speziell die Autorin deuten kann, denn diese hat sich soweit in das Tierleben hineingedacht und -gefühlt, dass sie nicht nur mit den beschriebenen Tieren spricht, sondern sich deren Wünsche und Begehren buchstäblich erzählen lässt.
Und dieses Begehren ist ein weiterer zentraler Punkt der Gedichtsammlung. Jedes Tier, bis hinunter zur Koralle (die ja auch ein Tier ist!), spürt ein jeweils individuelles Begehren, wie wir es auch vom Menschen kennen, und einmal zu Wort gekommen, bringen die Tiere dieses körperlicher Begehren intensiv zum Ausdruck. Viele sprachliche Momente erinnern dabei an (menschliche) Liebesgedichte früherer Jahrhunderte, in denen das Begehren meist lyrisch umschrieben und oft sogar mystisch überhöht wurde. Religiöse Dogmen und Zensur mögen dabei eine Rolle gespielt haben, aber auch der Wunsch nach Transzendentierung dieses kaum fassbaren Begehrens.
Die Gedichte unterliegen keiner strengen Metrik und sind nicht gereimt, sondern eher als rhythmisierte Prosa zu verstehen. Das Lyrische ergibt sich aus den elliptischen Sätzen sowie den starken Metaphern und Bildern, die das geradezu meditativ beschworene Innenleben der jeweiligen Kreatur realistisch und glaubwürdig machen. Da geht es vom Eichhorn „san“ zum Leguan „miku“, von der Anakonda „sarawak“ zum Glühwurm „mala“, um nur die ersten vier zu nennen, und es folgen 49 weitere Tiere, die auch ihr Innerstes nach außen kehren möchten. Alle sind geprägt vom Begehren, nicht nur den anderen zu spüren, sondern auch, von ihm begehrt zu werden.
Die Lesung hätte wahrlich ein größeres Publikum als das knappe Dutzend Besucher verdient gehabt, doch leider hat Lyrik, vor allem abseits des literarischen Mainstreams, heute keine große Reichweite. Dennoch sei dieses kleine Büchlein allen Lyrik- UND Tierfreunden ans Herz gelegt.
Es ist im Aphaia-Verlag erschienen und kostet 15 Euro.
Frank Raudszus
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