Für die der Philosophie nur rudimentär mächtigen Menschen war Immanuel Kant ein eigenbrötlerischer Stubenhocker mit einem Hang zu komplexen wenn nicht gar verschrobenen Gedankengängen. Die äußeren Umstände seines Lebens – Zeit seines Lebens unverheiratet, keine Kinder und Königsberg nie verlassend – unterstützen dieses Klischee, und es ist ein Verdienst – neben vielen anderen – dieses Buches, mit diesem Missverständnis aufzuräumen. Marcus Willaschek hat jedoch keine menschelnde Biographie verfasst, die sich in die allzu menschlichen Stärken und Schwächen dieses Ausnahmedenkers hineinbohrt, sondern eine (populär)wissenschaftliche Abhandlung über Kants philosophische Arbeiten und seine Weltsicht, die mit schlafwandlerischer Sicherheit auf dem schmalen Grat zwischen tiefdenkerischer Unverständlichkeit und allzu publikumsfreundlicher Plattheit wandelt. Auch als nicht akademisch geschulter Philosoph versteht man die Strukturen und Argumentation von Kants Philosophie und erhält ganz nebenbei einen Eindruck von Kant als Mensch.
Willaschek hat sein Buch in fünf Themenbereiche aufgeteilt, die nacheinander „Politik und Geschichte“, die „Moral der Vernunft“, das „Vernunftwesen in Gesellschaft“, den „Mensch[en] als Teil der Natur“ , „Metaphysische Erkenntnis und ihre Grenzen“ und schließlich die Kant-Rezeption bis heute behandeln. Dabei geht er zwar grob chronologisch vor, wechselt jedoch im Zuge seiner Erörterungen aufgrund der zunehmenden Breite und Querverbindungen von Kants Arbeiten schwerpunktmäßig zu einer thematischen Sichtweise. Zwar betont Willaschek von Beginn an, dass für Kant die praktische Vernunft, die in der Reihenfolge der drei wichtigsten Werke – „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“ – in der Mitte steht, das eigentliche Maß für eine gelingende menschliche Existenz war, doch im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht immer wieder die „reine Vernunft“ wegen der hier erstellten Struktur der zentralen Begrifflichkeiten und der ihnen anhaftenden logischen und zum Teil widersprüchlichen Eigenschaften. Dabei zeigt Willaschek detailliert und nachvollziehbar Kants Bestreben, die unterschiedlichen und sich in zentralen Aspekten widersprechenden Theorien seiner Vorgänger von Platon über Aristoteles und Descartes bis hin zu Locke und Hume unter dem Dach einer allgemeinen und logisch nachvollziehbaren Struktur wenn nicht zu vereinen dann doch einzuordnen.
Das erforderte im Einzelfall spekulative Annahmen eines „als ob“, die sich jedoch nicht widerlegen lassen. So löste Kant das Problem der unendlichen Kette von Ursache und Wirkung – „warum existiert eine Ursache“ – etwa damit, dass er den Dingen der menschlichen Anschauung unzugängliche Eigenschaften zuschrieb, die dem (allzu) menschlichen Drang, die Ursachenforschung bis ins Unendliche fortzusetzen, auf eine ihnen eigene Art ein Ende setzten. Das ist laut Willaschek eine legitime da nicht falsifizierbare Hypothese.
Willaschek erweitert das Verständnis Kants auch in der Hinsicht, dass er ihn als für seine Zeit kompetenten Naturwissenschaftler ausweist, der anfangs lange Jahre über das Sonnensystem und das Universum sowie Newtons Mechanik lehrte, natürlich stets unter den Einschränkungen des damaligen Wissensstandes. Das galt auch für die menschliche Entwicklung, die er damals schon weitab von der christlichen Schöpfungslehre ansiedelte, obwohl Darwin gerade einmal geboren war. Dabei unterteilt er die Menschheit in verschiedene Gattungen, um hier den Rassenbegriff zu vermeiden, denen er ganz unbefangen unterschiedliche „Wertigkeiten“ zuordnet. Willaschek geht dem aktuellen Rassismus-Vorwurf (an Kant) nicht aus dem Weg und marginalisiert ihn auch nicht mit dem Hinweis auf den historischen Kontext, aber er lehnt eine generelle Diskreditierung Kants, wie von einer bestimmten „Cancel Culture“ gefordert, entschieden ab. Für ihn behalten alle anderen Begrifflichkeiten und Erkenntnisse Immanuel Kants weiterhin ihre Gültigkeit.
Den Widerspruch zwischen dem vor der Entwicklung des Quantentheorie durchaus aktuellen naturwissenschaftlichem Determinismus und dem für eine menschliche Ethik entscheidenden freien Willen diskutiert Willaschek eingehend und ebenso Kants Antwort darauf, die darauf hinausläuft, dass der Mensch als Naturwesen zwar dem Determinismus unterliege, als „normatives Wesen“ jedoch über die Möglichkeit einer freien Entscheidung verfüge. Er verweist auch hier darauf, dass Kant dies natürlich nicht beweisen konnte und das auch wusste, dass die Deterministen jedoch auch das Gegenteil nicht logisch zwingend beweisen konnten. In diesem Sinne war Kant nach Willaschek schon ein moderner Naturwissenschaftler, der Hypothesen solange weiterverfolgt, wie sie nicht widerlegt sind.
Auch auf Kants Haltung zur Teleologie geht Willaschek detailliert ein. Eingehend diskutiert er Kants „Zweck“-Begriff, der – ähnlich dem „Freiheit“-Begriff – in einen äußeren (für etwas) und einen inneren (für sich) Zweck zerfällt. So sind Pflanzen und Tiere Mittel zum Zweck des Menschen, während dieser seinen eigenen Existenzzweck in sich selbst trägt. Auch hier spielen wieder der freie Wille und die „unverursachte Ursache“ eine Rolle. Das gilt auch für Kants Einstellung zur Religiosität, die er als eine transzendentale Referenz fordert, ohne deshalb die Realität der konkreten Religionen zu akzeptieren.
Willaschek arbeitet auf diese Weise bei allen Themen die Grundstruktur von Kants Denken heraus, die daraus hinausläuft, sich bei einander widersprechenden Theorien nicht auf eine Seite zu schlagen, sondern beide Seiten zu verstehen und dann ein logisches System zu entwickeln, dass beiden Raum gewährt. In diesem Sinne war Kant seiner Zeit – und manchem heutigen Religionsführer von Mekka bis Rom – weit voraus, ohne diese Harmonisierung nur mit salbungsvollen Worten erreichen zu wollen. Logik stand für ihn im Mittelpunkt, und notfalls musste eine nicht falsifizierbare Hypothese, sprich: eine Art von Glauben, den letzten Anker bilden.
Auch das Problem von „Anschauung“ und „Wirklichkeit“ behandelt Willaschek eingehend. Wenn Descartes die menschlichen Anschauungen als potentielle Lüge der Sinne entlarvt und nur das „cogito“ bestehen lässt und andererseits die Empiristen die sinnliche Anschauung als letzte Wirklichkeit sehen, so sucht Kant auch hier eine „realistische“ Alternative, die sich in seinem berühmten Ausspruch niederschlägt: „Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“. Willaschek verdeutlicht auch dem Laienleser, was das „Ding an sich“ bedeutet und warum man laut Kant dieses „an sich“ nie wird erkennen können.
Ein Hinweis noch zu Kant als Mensch. Willaschek schildert ihn als lebensfrohen Menschen, der gerne Gesellschaften mit gutem Essen und Getränken besuchte und sich ausgesprochen elegant kleidete – bis hin zu einem Anflug von Dandyhaftigkeit. Auch humorvoll muss er gewesen sein und dem anderen Geschlecht (damals gab es nur zwei) nicht abgeneigt. Sein Junggesellentum hatte dann ganz einfach weltliche Gründe, etwa eine zu späte Berufung zum gut verdienenden Professor.
Es würde den Rahmen dieser Rezension sowohl hinsichtlich Umfang als auch hinsichtlich Kompetenz des Rezensenten sprengen, wollte man auf alle wichtigen Themen und Sätze eingehen, die Willaschek in seinem Buch präsentiert. Wer jedoch Kant nur aus dem Begriff des „kategorischen Imperativ[s]“ – oder ähnlicher Begriffe – kennt, sollte sich bei vorliegendem Interesse mit diesem Buch beschäftigen. Es lohnt sich wegen seiner Tiefenschärfe bei gleichzeitiger Verständlichkeit.
Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 431 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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