Peter Handke stellt seinem neuen Buch „Die Ballade des letzten Gastes“ ein Zitat aus der Odyssee und ein Zitat von Carson McCullers voran:
„… Wohin nur könnte ich hinab-hinaus-voranflüchten?“ (Odyssee 20/43)
„Sie wollte zu spielen anheben mit einer stillen Traurigkeit … und allmählich sich einem Gefühl tiefen Kummers nähern.“ (Carson McCullers, Das Wunderkind)
Die beiden Zitate enthalten den Kern dessen, was uns Handke in seiner „Ballade“ mitteilt. Seine Hauptfigur Gregor Werfer ist ein Wanderer, einer, der die Menschen flieht und „Ein-Mann-Expeditionen“ auf fernen Kontinenten unternimmt. Einer, der Irrwege geht, sein Ziel aus dem Auge verliert und dennoch schließlich heimkehrt, dabei immer erfüllt von Traurigkeit und dem Gefühl, fremd zu sein in der Welt. Ist die Wahl des Namens „Gregor“ ein Zufall? Oder liegt die Assoziation mit Kafkas Gregor Samsa nahe? Der allerdings ist kein Werfer, sondern eher ein Geworfener. Dennoch ähneln sie sich in ihrer Sonderstellung, auch innerhalb der Familie.
Handke nennt seinen Text eine Ballade, d.h. ein dramatisches Erzählgedicht. Seine Ballade hat drei Teile, man könnte sie auch Strophen nennen: 1. Über den Tod eines Fremden, 2. Die Ballade vom letzten Gast und 3. Die Ballade des letzten Gastes.
Im ersten Teil sehen wir den Geologen Gregor Werfer unterwegs zu seinem alljährlichen Besuch bei Eltern und Schwester im Heimatdorf, diesmal ist der Anlass die Kindstaufe des Neffen. Gregor soll der Taufpate sein. Es ist eine Annäherung mit ambivalenten Gefühlen, da sind sowohl die Kindheitserinnerungen und die immer noch erkennbaren alten Wege als auch die großen Veränderungen, die aus dem Dorf nur einen jetzt fremden Teil einer größeren „Agglomeration“ von Häusern und Ortsteilen gemacht haben. Und da ist das Gefühl des Nicht-Dazugehörens, des Sonderlings, auch innerhalb der Familie. Zögerlich ist der Weg zum Elternhaus aber insbesondere deshalb, weil Gregor die Nachricht des Todes vom jüngsten Sohn Hans im Gepäck hat. Gregor ist der einzige, der losen Kontakt hat, und so wird seine Ankunft sehnsüchtig erwartet, weil man sich neue Nachrichten von dem verlorenen Sohn erhofft, der in der Fremdenlegion verschollen ist.
Auf seinem Wege lässt Gregor das Leben des Bruders Revue passieren, auch das Leben eines Unangepassten, eines immer wieder Flüchtenden, der keinen Boden unter den Füßen findet. Ironischerweise ist dieser Bruder kein Fremder, vielmehr ist Gregor ihm so nahe gekommen wie kaum einem sonst. Dennoch bleibt ihm das Gefühl von Nähe fremd.
Erzählt wird aus der personalen Perspektive Gregors, in der 3. Person. Wir verfolgen als Leserinnen Gregors Weg mit seinem einen gesunden Auge, mit seinen Gefühlen und Gedanken. Er nimmt sich vor, nur Chronist zu sein, d.h. mit einer Chronistensprache „sachlich“ und sachgerecht“ zu berichten. Das erweist sich jedoch als Illusion, denn Gregors Empfindsamkeit und die Trauer um den Bruder stehen der Sachlichkeit entgegen. Vielmehr ist Gregors Sprache von hoher Subjektivität und Emphase. Dramatisch ist für Gregor die Ankunft im Hause: Wie umgehen mit der Todesnachricht angesichts der Erwartungen von Eltern und Schwester? Gregor hilft sich mit der Familientradition des Verschweigens, wohl wissend, dass es ebenso die Familientradition des Nicht-Fragens gibt.
Davon erzählt der zweite Teil, „Die Ballade vom letzten Gast“. Gregor reagiert mit Flucht. Nur eine Nacht verbringt er im Elternhaus, dann muss er gehen, in die Natur, in den Wald, ohne Richtung, nur mit dem Bedürfnis, abseits der Menschen zu sein.
Aber die Flucht vor dem Schmerz ist nicht möglich, die Natur, die ihm bisher wie eine Mutter war, wird ihm zur Widersacherin. Gregor flieht zurück zu den Menschen, jedoch nicht in die Familie, sondern zu Fremden in Gaststätten. Eine neue Erfahrung bemächtigt sich seiner, zum ersten Mal fühlt er sich als Einzelgänger, als Sonderling angenommen und zugehörig. Die Gaststätte ist ein Ort der Unverbindlichkeit, des Schweigens und des Sprechens, einer neuen Freiheit, denn es gibt keine Verpflichtung zur Nähe. Er kann bleiben, als letztem Gast wird ihm sogar ein Nachtlager bereitet.
Über diesen Umweg erfährt er am Tag der Taufe eine neue innere Nähe zu den Eltern und zur Schwester, um dann aber sofort wieder aufzubrechen zu dem fernen Kontinent.
Wir sehen den Widerspruch in einem, der versucht, seinen Gefühlen zu entkommen, aber erleben muss, dass sie ihn einholen und dass er der Nähe zu Menschen mehr bedarf, als er je angenommen hat. Er ist einer, der jetzt an den Kindheitsorten vieles neu und anders erlebt. Im Nachhinein wird ihm selbst einiges verwunderlich erscheinen, denn er fällt von Zeit zu Zeit aus der Perspektive, um ein offenbar in der Zukunft geführtes Zwiegespräch im Ich – Du – Modus als Kommentar einzufügen. Ein widersprüchlicher Erzähler also, der so manches Mal wieder zurücknimmt, was er gerade berichtet hat.
Der Titel des dritten Teils, „Die Ballade des letzten Gastes“ ist ein Spiel Handkes mit unserer Aufmerksamkeit, denn der Unterschied zum zweiten Teil „Die Ballade vom letzten Gast“ lässt sich leicht überlesen. Der Perspektivenwechsel aber unterstreicht den Unterschied: Während der zweite Teil Gregors Erleben in der unmittelbaren Gegenwart des siebentägigen Aufenthalts in der Heimat verfolgt, ist der dritte Teil die rückblickende Erinnerung des Ich-Erzählers Gregor.
Es sind chronologisch ungeordnete Erinnerungsfetzen, Träume, Wiederholungen und reflektierende Vertiefungen der Erlebnisse, von denen wir im zweiten Teil gehört haben. Dahinter steht Gregors bzw. Handkes Erkenntnis, dass wir die Zusammenhänge der vielen Ereignisse in unserem Leben erst durch die Wiederholung und durch Reflexion erfassen können. Die Fähigkeit zur Reflexion setzt jedoch genaue Wahrnehmung voraus. Deshalb ist Gregor ein Geher, der sich langsam durch die Welt bewegt, der die Natur genau studiert hat und nun auch bereit ist, die Menschen besser kennen zu lernen. Bisher hat er die Welt nur „einäugig“ – ein Auge hat er schon in der Kindheit verloren – und egozentrisch gesehen, die Trauer um den verlorenen Bruder bekehrt ihn zur inneren Zweiäugigkeit. Aus dem Alles-Besser-Versteher will er zu einem werden, der die Menschen neu wahrnimmt: „Nie mehr über welche den Kopf schütteln, außer über mich selbst.“
Im Gegensatz zu früheren Handke-Texten erleben wir hier einen altersweisen und fast demütigen Autor/Erzähler, der sich selbst neu erlebt.
Das alles geschieht in einer so dichten Sprache, dass ich den Text nicht einfach nur lesen konnte, sondern wahrhaft studieren musste, um die vielen Bezüge, Beobachtungen, metaphorischen Verweise, die impliziten und expliziten philosophischen und auch religiösen Zusammenhänge zu erkennen. Handke macht es uns auch diesmal mit seiner großen Sprachkunst nicht leicht, ihm zu folgen. Vieles klingt zunächst kryptisch, so verdichtet, in einer oft elliptischen Sprache formuliert, in der der Sprecher sich selbst korrigiert, so dass es bisweilen großer Konzentration bedarf, einen Sinnzusammenhang zu verstehen. Aber die Anstrengung lohnt ich, ich habe mich mit großen Gewinn durch den Text gearbeitet. Die Herausforderung ist ein Vergnügen angesichts so vieler belangloser Texte, die heute oft schnell zusammengeschrieben werden und von denen nichts Wichtiges bleibt. Das ist bei Handke anders. Er zwingt uns als Leserinnen und Leser zum langsamen Gehen, zum Innehalten und genauen Hinsehen, eine Übung, die wir gerade in den schnellen WhatsApp- und Instagram-Zeiten nicht nur für die Handke-Lektüre benötigen. Apropos WhatsApp-Zeiten: Handke versteht sich offenbar als Anti-Modernist. Er verwendet die alte Rechtschreibung, und er hat kein Handy, sondern ein „Taschentelefon“. Warum nicht??
Für Handke/Gregor bedeutet Erzählen im Sinne des Odysseus, „etwas weiter und immer weiter hinauszuschieben … das Erzählen der ANDEREN Scheherezade“. Was wird aufgeschoben? In allen Fällen der Tod. Das ist Gregors Wunsch, die Nachricht vom Tod aufzuschieben, aber auch den eigenen Tod. So sieht er in der Überschau über sein Leben im letzten Absatz seiner Ballade, wie er „als der letzte Gast an einem wackligen Tisch saß“ und wie „das Schulkind, trödelnd auf dem Heimweg, im Gehen den Schulbeutel von der einen auf die beiden Schultern wechselte“. Das selbstvergessene Kind nur in der Gegenwart sich bewegend und der reflektierende Alte, der sich der eigenen Vergänglichkeit bewusst ist.
Und Handke selbst? Ist er nicht tatsächlich einer der letzten Gäste seiner Schriftsteller-Generation auf dieser Welt?
Lesen Sie „Die Ballade des letzten Gastes“. Unbedingt!
Das Buch ist im Suhrkamp Verlag erschienen, es hat 185 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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