Jeder Bücherfreund kennt das Buch „1001 Nacht“, in dem der Erzähler bei Androhung der Todesstrafe den übellaunigen Herrscher unterhalten muss. Die von ihm erzählten Märchen zeichnen sich dabei durch epische Opulenz und äußersten Farbenreichtum aus.
Der seit einem halben Jahrhundert in Deutschland lebende Syrer Rafik Schami setzt diesem Buchklassiker eine moderne Variante entgegen, die eher die Sicht des einfachen Volkes widerspiegelt. Der Erzähler Karam ist Schamis eigenem, auch gerne Geschichten erzählenden Großvater nachempfunden. Karam erfährt von den Depressionen der jungen Prinzessin Jasmin und erbietet sich bei deren Vater, sie davon zu befreien. Die Leser wissen zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Jasmin einen nicht standesgemäßen jungen Mann liebt, dies ihrem Vater zu beichten aber nicht wagt.
Die Heilung gestaltet sich anfangs schwierig, da Jasmin auf Ansprache nicht reagiert. Doch wünscht sie weiterhin Karams Anwesenheit, und so beginnt dieser, Geschichten zu erzählen. Doch im Gegensatz zu „1001 Nacht“ kommt er schnell auf die Idee, die Bevölkerung einzubinden, und veranstaltet einen zehntägigen Erzählwettbewerb, bei dem jeder und jede der Anwesenden eine Geschichte erzählen darf. Damit öffnet er sein Konzept für die einfachen Geschichten des Volkes, die sich im Laufe der Jahrhunderte als Beispiele für menschliche Stärken und Schwächen entwickelt haben. So weckt eine Erzählung spontan die nächste, da jede Geschichte bei den Zuhörern eigene Erinnerungen freisetzt.
Die meisten Geschichten sind sehr schlicht und bringen die jeweilige Aussage schnell und deutlich zum Ausdruck. Man erkennt den didaktisch-pädagogischen Zweck dieser kurzen Märchen. Da geht es um Mut und Feigheit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, aber auch um listigen Widerstand gegen die Mächtigen.
Seine eigene Situation bringt der Autor dadurch ins Spiel, dass er Karam aus einem repressiven Land kommen lässt, in dem Menschen für eine eigene Meinung und Widerspruch eingesperrt. gefoltert oder getötet werden. Die Botschaft ist klar. Das Land des guten Königs und seiner depressiven Tochter dagegen zeichnet sich durch Toleranz und gegenseitige Achtsamkeit aus, und man kann hier ungefährdet seine Meinung sagen. Wer will, kann darin eine Verbeugung vor Schamis Wahlheimat Deutschland sehen.
Am Ende geht natürlich alles gut aus, aber das spielt schon keine Rolle mehr, denn im Mittelpunkt stehen die vielen kleinen Moralgeschichten mitten aus dem Volk.
Man sollte dieses Buch nicht unbedingt in einem Zug lesen, da die Geschichten sich in ihrer Schlichtheit oft wiederholen und keine höhere Erkenntnis liefern. Aber darum geht es dem Autor auch nicht, sondern um die Wiedererweckung alter orientalischer Geschichten und mit diesen um die Betonung der grundlegenden Tugenden funktionierender Gemeinschaften.
Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen, umfasst 480 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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