Der russische Exilautor Autor Mark Aldanow (1886 – 1957) war bisher bei uns nahezu unbekannt bzw. in Vergessenheit geraten. Umso verdienstvoller ist es, dass Aldanows Roman „Der Anfang vom Ende“ nun erstmals in der deutschen Übersetzung von Andreas Weihe bei Rowohlt erschienen ist.
Aldanow gehörte zur Generation der russischen Exilautoren in New York, zu denen unter anderen Nabokov und Bakunin zählten. Aldanow verließ Russland nach der Revolution 1919, lebte zunächst in Paris, floh dann 1941 über Nizza nach New York. 1947 kehrte er nach Nizza zurück.
Der Roman „Der Anfang vom Ende“ erschien erstmals 1943 auf Englisch in New York, die Londoner Nachauflage von 1945 war jedoch nirgends zu erwerben. Es gab daraufhin die Vermutung, dass die gesamte Auflage von der sowjetischen Botschaft in London aufgekauft worden sei. In Russland erschien die erste Edition Mitte der 1990er Jahre, nachdem das bis dahin verschollene Manuskript des letzten Kapitels wieder aufgetaucht war.
Der Roman spielt im Jahre 1937, Ort der Handlung ist Paris. Wir erfahren, dass der sowjetische Botschafter Kangarow, der Geheimdienstexperte und Agent Wislicenus (so einer seiner vielen Namen) und der Militärexperte Tamarin, ehemals General im Dienste des Zaren, von Moskau mit verschiedenen Direktiven nach Paris entsandt worden sind. Kangarows Auftrag ist es, auf diplomatischer Ebene die Beziehungen der Sowjetunion zum Westen zu stabilisieren. Wislicenus‘ Auftrag bleibt unsichtbar, Tamarin wird zwischenzeitlich als Beobachter an die Front des spanischen Bürgerkriegs geschickt.
Alle drei kämpfen mit inneren Widersprüchen, insofern sie sich entgegen ihrer offiziellen politischen Ausrichtung mit dem kapitalistischen Frankreich arrangieren müssen, sich dem gesellschaftlichen Leben der Stadt stellen müssen, mit Bankiers ebenso dinieren müssen wie einer obskuren „königlichen Hoheit“ mit allem protokollarischem Firlefanz ihre Aufwartung machen müssen, sogar an einem „königlichen“ Ball teilnehmen müssen. Die Entfernung von Moskau und der offiziellen Doktrin lässt Zweifel aufkommen, wieweit sie ihrem Staat noch unbedingt dienen wollen oder können. Auch der Berufsrevolutionär Wislicenus, der sich am liebsten jedem Protokoll entziehen möchte, sieht sich gezwungen mitzumachen. Über allem Zweifel, auch – wie Wislicenus – an der eigenen bolschewistischen Vergangenheit mit allen dazugehörigen eigenen Gräueltaten, schwebt die Angst, vom Regime als Verräter oder zumindest unsicherer Kandidat entlarvt zu werden, was in der Zeit der stalinistischen Säuberungen lebensgefährlich ist. So bewegen sich diese Figuren auf dem Pariser Parkett wie auf einer Eisbahn, auf der sie jederzeit stürzen und sich den Hals brechen können.
Parallel zur politischen Ebene verläuft eine psychologische Ebene, denn alle drei Männer im fortgeschrittenen Alter sind verliebt in die 20-jährige Parteisekretärin Nadja, die Kangarow an die Seite gestellt ist. Alle bemühen sich um ihre Zuneigung, sind aber gleichzeitig unsicher, wie linientreu sie ist und damit auch gefährlich sein kann. Verunsicherung treibt alle zu grundsätzlichen Überlegungen zu Kommunismus, Diktatur und liberaler Demokratie, ohne sich eindeutig festlegen zu können. Der ehemalige General Tamarin hat sich für eine technokratische Haltung entschieden, d.h. es ist ihm gleichgültig, welchem Regime er mit seinen militärischen Kenntnissen dient. Im Herzen aber sind ihm die Verhaltensweisen seiner neuen „Arbeitgeber“ fremd.
Den Agenten des Sowjetsystems stellt Aldanow Vertreter der bürgerlichen wie auch der aristokratischen Gesellschaft von Paris gegenüber. Die Intellektuellen, der berühmte Schriftsteller Vermandois wie auch der Anwalt Cerisier, beide um die 70, geben sich links, sogar als Anhänger sozialistischer Ideen, haben sich aber doch gut im bürgerliche Leben arrangiert. Beide haben den Zenit ihrer Karriere überschritten, schwanken zwischen Selbstzweifel und Bildungshochmut, immer bemüht, die einmal errungene gesellschaftliche Position zu halten. In inneren Monologen räsonieren sie über die politischen Systeme, sehen ihre eigenen linken Ideale in dem diktatorischen System der Sowjetunion, das sie dem des Hitler-Regimes gleichsetzen, verraten. Insgesamt sind auch sie von tiefer Verunsicherung betroffen, was ihre gesellschaftliche und politische Verortung anbetrifft.
In dieses Figuren-Ensemble flicht Aldanow die Geschichte des jungen Schreibers Alvera, der, vermeintlich besser als Dostojewskis Raskolnikow, den perfekten Raubmord plant. Zu seiner Verteidigung wetteifern Cerisier und Vermandois mit ihrer vorgeblichen Menschlichkeit, tatsächlich aber, um sich ihrer untergehenden Popularität zu versichern.
Aldanow entlarvt sie alle in ihrem zynischen oder opportunistischem Verhalten, sowohl die „offiziellen“ Kommunisten wie auch die Liberalen oder die Salon-Sozialisten. Das erscheint in dem Roman nicht nur als Anfang vom Ende der Figuren selbst, sondern auch der politischen Systeme, die sie vertreten. Die Aristokratie gibt Aldanow der Lächerlichkeit preis, sie ist nur noch formale Hülle, schon dem Untergang geweiht. So ist es auch unerheblich, wer die „königliche Hoheit“ ist, die zum Ball lädt und meint, die Vertreter des sowjetischen Regimes mit Nicht-Achtung demütigen zu müssen.
Dem jungen Alvera dagegen als Vertreter der jungen Generation scheint jegliche moralische Verpflichtung abhanden gekommen zu sein. Er ist der moderne Egomane, der nur sich selber sieht und sein Handeln mit dem Bewusstsein der eigenen Überlegenheit vor sich selbst rechtfertigt.
Der Roman „Der Anfang vom Ende“ markiert das Vorgefühl des Epochenumbruchs in Europa, der mit dem zweiten Weltkrieg bevorsteht. Die Verunsicherung aller seiner Figuren macht Aldanow eindringlich sichtbar durch den Perspektivwechsel in den verschiedenen Handlungssträngen. Als Leserinnen nehmen wir unmittelbar teil an den Grübeleien und inneren Erörterungen seiner Figuren. Damit entgeht Aldanow einer ideologischen Festlegung, denn es gibt keine Figur, mit der die Leserin sich identifizieren kann, wird doch jede Figur durch die Sicht der anderen Figuren wieder in Frage gestellt.
Zweifellos aber steht Aldanow für eine Gesellschaft, die frei ist von diktatorischem Machtanspruch. Die Frage ist nur, welche das sein kann, d.h. welcher die Zukunft gehören sollte. Dass gerade Begriffe wie Freiheit und Frieden ideologisch für Machtinteressen missbraucht werden können, erkennen die Intellektuellen Vermandois und Cerisier glasklar, ohne aber eine eindeutige kämpferische Haltung einnehmen zu können. Auch sie arrangieren sich für ihren eigenen Vorteil mit dem Bestehenden, auch wenn sie wissen, dass ihre Zeit vorbei ist.
Insgesamt ist „Der Anfang vom Ende“ ein unbedingt empfehlenswerter Roman. Lesenswert ist auch das Nachwort des Übersetzers Andreas Weihe, das den Roman in seinen Entstehungszusammenhang stellt.
Der Roman ist in der deutschen Übersetzung von Andreas Weihe 2023 im Rowohlt Verlag erschienen. Das Buch hat 688 Seiten und kostet 38 Euro.
Elke Trost
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