Der 2023 erschienene Roman „Schneeflocken wie Feuer“ von Elfi Conrad taucht tief ein in die 60er Jahre der Bundesrepublik. Die fast 80-jährige Dora schaut anlässlich eines Klassentreffens zurück auf sich selbst als Siebzehnjährige, die in einem Provinzort im Harz aufwächst.
Nach einem Englandaufenthalt während eines Schüleraustauschs ist ihr ganzes Streben, der Enge ihrer Lebensumwelt mit ihrer Moral und ihren engen Normen zu entfliehen. Sie will leben und sich selbst als Frau erfahren, ohne wirklich zu wissen, was sie damit meint.
So sieht sich die zurückblickende Dora Rock `n Roll tanzen, den Freundinnen den in England gelernten Twist beibringen und schließlich auf einem Fest in der 12. Klasse den jungen Musiklehrer anbaggern. Eigentlich ist es nur eine Wette, dass sie sich das eher traut als die anderen Mädchen. Dass daraus ein neuer Erfahrungsraum der eigenen Sexualität entstehen wird, ist ihr noch nicht bewusst. Der 29-jährige Musiklehrer ist für sie ein richtiger Mann im Gegensatz zu ihren unreifen Mitschülern, deren Zuneigung sie aber sehr wohl zu nutzen weiß. Anders als die übrigen Lehrer inszeniert sich dieser Lehrer als jugendlicher Rebell mit Jeans, aufgekrempeltem Hemd, Stiefeln und längeren Haaren. Er beeindruckt die Mädchen zudem mit seinem Gitarrenspiel. Dass er neben dem Beruf noch in einer Rockband spielt, macht ihn zusätzlich attraktiv.
Mit Erstaunen registriert die Erzählerin, wie sie als Mädchen alle darauf getrimmt waren, dem Mann zu gefallen, wie sie diese Rolle ohne Frage angenommen haben. Man stylte sich möglichst verführerisch, die Augen schwarz geschminkt, mit weitem Rock, Petticoat aus Tüll, mit enger Taille und natürlich „Stöckelschuhen“, die – so der Kommentar der alten Dora – noch nicht „High Heels“ hießen.
Aus der Lebenssituation der 17-jährigen Dora entwickelt sich das Zeitkolorit der 60er Jahre, wie es jede und jeder dieser Generation wiedererkennt. Auf Schritt und Tritt sagt sich die lesende Zeitgenossin von Dora: „Ja, das stimmt, so war es.“ Insbesondere betrifft das die Frauenrolle. „Emanzipation“ war noch ein Fremdwort. Für Doras Mutter ist klar, dass Frauen nie das erreichen können, was Männer erreichen können, obwohl sie selbst seinerzeit auf einem Jungengymnasium ein hervorragendes Abitur mit Schwerpunkt Naturwissenschaft abgelegt hat. Sie wird es Zeit ihres Lebens nicht verwinden, dass sie wegen des Krieges, insbesondere aber wegen der frühen Schwangerschaft, nicht studieren konnte.
Die Mutter zieht sich in eine ewige Krankheit zurück. Der Vater, ein glückloser Erfinder, versucht seine Erfolglosigkeit durch autoritäre und auch brutale Dominanz in der Familie zu kompensieren. Dazwischen steht Dora, die den Haushalt managen muss, sich um die Mutter wie auch um die kleine Schwester kümmern muss, dazu kommen die schulischen Anforderungen.
Aus den äußeren eingeschränkten Lebensbedingungen – die Familie lebt beengt in einer Hinterhofwohnung – entsteht Doras Lebenshunger, der gerade angesichts der verklemmten Sexualmoral der Zeit nach Durchbrechen dieser Einengung strebt.
Elfi Conrad gelingt es, diese Spannung zwischen der Erfahrung der fast 80-jährigen und der unbedarften, aber dennoch schon rebellischen 17-jährigen herzustellen. Erst durch die 68er Bewegung und dann die Frauenbewegung der 70er lernt Dora Autorinnen wie Simone de Beauvoir und Kate Millet kennen und entwickelt, wie zum Glück viele Frauen ihrer Generation, ein neues Selbstverständnis als Frau.
Der „Duft der weiten Welt“, so eine damals sehr bekannte Werbung der Zigarettenmarke Peter Stuyvesant, zieht schließlich mit der neuen Musik auch in den Harz ein. Nach Cornelia Froboess und den gängigen Schnulzen sind Rock `n Roll, Twist und schließlich die Beatles Vorzeichen einer Zeitenwende, die auch die Jugend im Harz spürt.
Elfi Conrad versäumt es nicht, politische Ereignisse der 60er Jahre mit einzubeziehen: Fidel Castro übernimmt die Macht in Kuba, in Tibet kommt es zum Volksaufstand gegen China, in der UN werden die Kinderrechte verabschiedet. Das alles geht an Dora vorbei, zu sehr ist sie mit ihrer Rolle als junge Frau in der Familie und im Freundeskreis beschäftigt.
In Deutschland gibt es tatsächlich ein neues Gleichstellungsgesetz, aber über ihre Berufstätigkeit dürfen Ehefrauen dem Gesetz nach immer noch nicht selbst entscheiden. Stattdessen gilt immer noch das Gesetz von 1958, das bestimmt: „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung.“ Immer noch entsetzt ist die alte Dora, dass sie bei ihrer ersten Eheschließung davon nichts wusste. Hätte sie das geahnt, hätte sie nicht geheiratet. Das ging wohl den meisten jungen Frauen damals so, auch mir selbst. Diese gesetzliche Bestimmung wurde erst 1977 aufgehoben!
Es ist ein großes Verdienst von Elfi Conrad, diese Jahre noch einmal Revue passieren zu lassen. Amüsant lesen sich ihre Hinweise auf den Sprachwandel: Wie viele der für uns damals gängigen Ausdrücke werden heute gar nicht mehr benutzt! Für ihre Zeitgenossinnen bedeutet das ein Wiedererkennen der eigenen Jugend, insbesondere wenn sie ebenfalls in der Provinz stattfand. Bei Elfi Conrad wie wohl auch bei uns alten Leserinnen ist ein gewisser Stolz nicht zu übersehen, dass wir zu der Generation gehören, die der neuen Frauenbewegung den Anstoß gegeben hat.
So wäre der Roman auch jüngeren Frauen – und natürlich auch Männern – zu empfehlen, wenn sie mehr darüber wissen wollen, woher ihre Mütter und Großmütter gekommen sind. Die jüngere Generation hat häufig gar keine Vorstellung davon, wie lange bei uns die rechtliche Situation von Frauen eingeschränkt war. Darüber in diesem Roman mehr zu erfahren, kann zu einem besseren Verständnis für die Eltern- und Großeltern-Generation führen.
Die Belastungen für ein junges Mädchen wie Dora sind nach unseren heutigen Maßstäben sehr hoch, während die Mutter in die Krankheit flieht und damit alle Rollenvorschriften für sich über den Haufen wirft, um sie aber gleichzeitig der eigenen Tochter aufzubürden. Der Kampf um Emanzipation seit den 70er Jahren war insofern auch häufig ein Kampf mit den Müttern, die das selbst erlittene Unrecht unbewusst an ihren Töchtern rächen wollten. Doras Mutter etwa verkündet ihrer Tochter, nur Männer könnten sich selbst befriedigen und nur Männer hätten einen Höhepunkt. Damit vermittelt sie ihrer Tochter, dass sie es auch nicht besser haben werde. Glücklicherweise fügt sich Dora nicht diesem fatalistischen Ansatz.
Vielleicht ist dieser Blick in die Vergangenheit auch eine Ermutigung für junge Frauen weiter zu kämpfen, heute auf anderem Niveau. Es gilt, die immer noch bestehenden Benachteiligungen für junge Frauen im Beruf und in der Familie zu überwinden. Frauen dürfen sich nicht mehr überlasten, in dem sie wie selbstverständlich die „mental load“ der Familienorganisation neben der beruflichen Belastung übernehmen. Auch hier sind Ausbruch und Aufbruch nötig, wie es damals für die Doras der 60er und 70er Jahre war.
Das Buch ist im Mikrotext Verlag erschienen. Es hat 296 Seiten und kostet 26 Euro.
Elke Trost
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