Dieser historische Roman entführt die Leser nicht nur ins Avignon des frühen 14. Jahrhunderts, sondern ist auch als Verbeugung vor Umberto Eco und seinem Roman „Der Name der Rose“ zu verstehen, nicht zuletzt anhand des Symbols derselben Blume.
Im Mittelpunkt steht der norddeutsche Dominikaner-Novize Wittekind, der etwa im Jahr 1327 mit seinem Meister – hier ist der historische „Meister Eckhart“ gemeint – nach Avignon reiste, um dort den Vorwurf der Ketzerei zu widerlegen. Papst Johannes XXII., ein gebürtiger Franzose, war wenige Jahre zuvor unter starkem Druck des französischen Königs zum Papst gewählt worden und hatte seinen Amtssitz von Rom nach Avignon verlegt, was die katholische Geistlichkeit außerhalb Frankreichs als inakzeptables Vorgehen betrachtete. Ähnlich dachten die säkularen Führer des „Heiligen Römischen Reiches“ und versuchten mit allen Mitteln, auch militärischen, den Amtssitz zurück nach Rom zu holen, in letzter Konsequenz auch mit einem Gegenpapst in Rom.
Das ist die Situation zu Beginn des Romans, und sowohl Meister Eckhart wie auch sein Novize vertrauen fest auf die gerechte Entscheidung des Papstes, die nur als Freispruch denkbar ist. Doch schnell warnen andere in Avignon weilende Kleriker und Philosophen aus allen Nationen, unter ihnen Wilhelm von Ockham, dessen berühmtes „Rasiermesser“ noch konkret zum Einsatz kommen wird, sowie Umberto Ecos William von Baskerville, die beiden vor zu großer Naivität, da der Papst und sein gesamtes Gefolge rationalen Argumenten nicht zugänglich seien und nur ihre eigene Macht im Augen hätten.
Bei der Erkundung der winkligen Stadt wird Wittekind unerwartet verfolgt und fast umgebracht, aber in letzter Sekunde von Juden gerettet, die in einem abgeschlossenen Ghetto leben und selbst vor der Verfolgung durch die (ach so nächstenliebe) Kirche zittern. In diesen Kapiteln vermittelt der Autor den Lesern umfangreiche Kenntnisse über den Stand der kirchlichen Judenverfolgung in dieser Epoche. Doch Wittekind schaut sich weiter intensiv um, trifft auf verprügelte und dann ermordete Mitarbeiter der päpstlichen Verwaltung und beginnt langsam, den wahren Charakter der höchsten Instanz des christlichen Glaubens zu entdecken. Hier geht es nicht mehr um Glaubensinhalte und Dogmen, schon gar nicht um Nächstenliebe und Vergebung, sondern nur um die nackte Macht und den Glanz des Goldes. Der Papst selbst, studierter Jurist und kein geweihter Priester, versucht, aus der Kirche und deren armen aber willigen Schäfchen so viel Geld wie möglich herauszupressen. Dazu setzt er seine gesamte Verwandtschaft im Sinne eines Familienclans ein, wodurch schon junge, klerikal eher unbedeutende Neffen zu Kardinalsehren kommen können. Völlerei, Trinken, sexuelle Übergriffigkeit und Raub gehören zur Tagesroutine dieser Entourage, und Kritikern oder externen Konkurrenten droht der plötzliche Tod oder das langsame Siechtum im Kerker.
Wittekind steht dabei im Mittelpunkt der Verfolgung, ohne dass er den Grund wüsste. Knapp entgeht er mehrere Male dem Tode, und jedes Mal fügt sich wieder ein kleines Stück in das Puzzle. Gegen Ende kommt es dann tatsächlich zu dem großen Showdown, der mit einer Verbeugung vor Dostojewskis „Großinquisitor“ beginnt, in dem der Titelgeber den wiedererschienenen Jesus in einem langen Monolog von der Erde verjagt. Die so private wie einseitige Häretiker-Diskussion zwischen dem Papst und Meister Eckhart verläuft als dramatischer Höhepunkt des Romans nicht nur ganz ähnlich, sondern sie ist auch ein Paradebeispiel abgrundtiefer Bosheit und Grausamkeit, und dass ausgerechnet seitens des höchsten Vertreters von Nächstenliebe, Frieden und Vergebung. Dass ausgerechnet Wittekind dem Höchsten der Bösen ein Schnippchen schlagen kann, ist zwar ziemlich unwahrscheinlich, gehört aber in das Reich der dichterischen Freiheit. Dass die anschließende Flucht in eine große Entlarvung und in eine einmalige Liebesnacht mündet, gehört ebenfalls zu den märchenhaften Elementen, liest sich aber im Sinne von „Sex and Crime“ sehr spannend.
Am Schluss baut der Autor noch eine Rahmenhandlung ein, die eine dokumentarische Authentizität zum Ziel hat. Das ist so geschickt gemacht, dass so mancher Leser denken mag, hier handele es sich tatsächlich um ein historisches Dokument. Doch davor stehen sowohl der Gattungsbegriff „Roman“ als auch der fehlende Name des „Übersetzers“ im Nachwort.
Dieser Trick sei dem Autor nicht nur verziehen sondern auch gutzuschreiben, wogegen ein anderer Kritikpunkt etwas schwerer wiegt: Alle Protagonisten dieses historischen Romans aus der Zeit der klerikalen und säkularen Repression ohne die Informationsmöglichkeiten des Buchdrucks tragen ein Bewusstsein zur Schau, das eher einem Vertreter der gebildeten Schichten des 21. Jahrhunderts entspricht. So kann hier ein junger Novize aus einem norddeutschen Kloster locker die korrekte Reiseroute von Bremen nach Avignon entlang von Städten und Flüssen beschreiben, als habe er sich jeden Abend über die (damals nicht vorhandene) jeweilige Land- und Straßenkarte gebeugt. Ein junger Jude erklärt dem – ebenso jungen – Protagonisten die traurige Geschichte des „erwählten“ Volkes in wissenschaftlichen Termini des 21. Jahrhunderts, und überhaupt formulieren alle, hinunter bis zum Klostergärtner, ihre Ansichten im druckreifen Deutsch der Gegenwart. Nun kann man nicht erwarten, dass ein solcher Roman im mittelhochdeutschen Sprachduktus geschrieben ist, aber etwas mehr (dunkles?) Zeitkolorit wäre auch in den Charakteren und der Sprache zu begrüßen.
Doch auch so bietet dieses Buch ein spannendes Lesevergnügen. Es ist im Zsolnay-Verlag erschienen, umfasst 608 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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