Schon das Bühnenbild der Darmstädter Inszenierung von Moritz Rinkens Komödie „Wir lieben und wissen nichts“ unter der Regie von Judith Kuhnert begrüßt die Zuschauer mit geradezu plakativer Ironie. Pascal Seibicke hat dort ein bühnenbreites Bücherregal in grellem Gelb installiert, das seine intellektuellen Reclam-Titel – Spende des Verlags! – demonstrativ als Botschaft der Selbstverortung des Protagonisten nach außen sendet.
Sebastian (Daniel Scholz) ist freischaffender Autor mit höchsten Ansprüchen aber eher verschwindenden Auflagen und sieht sich trotz – oder gerade wegen? – seines bereits fortschreitenden Alters jenseits der Dreißig als Sachwalter des einstigen Studentenidealismus. Während seine Frau Hannah (Edda Wiersch) – palindromische Namen sind ironische Pflicht! – die Bücherregale für einen bevorstehenden Wohnungstausch leerräumt, verweigert Sebastian konsequent die Mitarbeit, da er diesen Wohnungstausch nicht mitmachen will. In literaturwissenschaftlichen Kurzvorträgen stellt er nicht nur nebenbei die Bücherwand vor, sondern erinnert seine Frau auch an ihre einstigen Ideale, die sie durch das geplante Seminar für Banker im fernen Zürich verrate. Daher hat er sich als Idealismus-Aktivist metaphorisch an seinen Sessel geklebt.
Hannah ist in dieser Beziehung jedoch die praktische und verdient den gemeinsamen Lebensunterhalt mit Seminaren für Führungskräften. Dabei zeigt sie mit ihrem sich selbst bespiegelnden Ehemann eine erstaunliche Geduld und behandelt ihn eher wie einen begabten Pubertierenden denn wie einen erwachsenen (Ehe-)Mann.
Wenn das Austauschehepaar aus Zürich – Roman und Magdalena – die Wohnung betritt, nimmt die Handlung Fahrt auf, denn Roman ist begeisterter IT-Ingenieur und will von dieser Wohnung aus den Start eines Satelliten verfolgen, an dessen Entwicklung er maßgeblich beteiligt war. Im Folgenden entwickelt sich ein „running gag“ um das WLAN-Passwort, für dessen Sinn und Verbleib Sebastian in seiner literarischen Entrücktheit weder Interesse noch Verständnis zeigt und damit Roman in den Wahnsinn treibt.
Im Prinzip ist damit die Handlung weitgehend beschreiben, denn eine größere Entwicklung von Handlung und Charakteren ergibt sich nicht mehr. Zwar erfahren wir noch, dass Sebastians Verweigerung der für das von Hannah dringend gewünschte Kind erforderlichen ehelichen Pflichten auf ganz profanen Gründen beruht, und dass Roman von seiner Firma bereits das – nicht gelesene – Kündigungsschreiben erhalten hat, diese Erkenntnisse erhöhen jedoch nur den Ironiegehalt des Stückes anstatt die Handlung voranzutreiben.
Autor Rinken stand in post-dramatischen Zeiten offensichtlich vor dem Problem, wie er den Konflikt um den verweigerten Wohnungstausch seitens des realitätsscheuen Literaturträumers einerseits und den Selbstbetrug des fortschrittsgläubigen Rationalisten andererseits glaubhaft auflöst. Ein Happy End – Verwechlsung der medizinischen Diagnose hie, irrtümliche Kündigung da – wäre Kitsch, ein tragisches Ende à la „Der Rest ist Schweigen“ wirkt in ironischen Zeiten daher irgendwie antik-naiv, als nähme man das Schicksal noch ernst. So lässt Rinken das Stück offen enden, wobei ein ebenfalls ironisch gewähltes Requisit eine Rolle spielt. Eine alte Theaterweisheit besagt, dass eine früh ins Spiel gebrachte Waffe – etwa ein Gewehr an der Wand – später zwangsläufig zum dramaturgischen Einsatz kommt. So auch hier, wenn Sebastian schon früh mit einer altertümlichen Pistole spielt. Sie wird später buchstäblich einen Knalleffekt auslösen, der hier aber tatsächlich nur wie Platzpatronen wirkt. Doch von da an ist Handlung als solche beendet, und es folgen nur noch Epiloge, die mehr oder minder starke Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft der beiden Paare wecken. Zwischenzeitlich hatte sich die Kulisse des knallgelben Bücherbords schon halb aufgelöst, was wohl auch als Anspielung auf die Brüchigkeit der vermeintlich stabilen Beziehungen zu deuten ist. Am Ende stehen alle Protagonisten nebeneinander ohne Blickkontakt an der Bühnenrückwand und lassen den Stand ihrer Beziehungen Revue passen. Der Vorhang und alle Fragen bleiben offen.
Dem Ensemble gelingt es durchaus, diesem ironisch gefärbten Fragment einer Tragikomödie Tempo und Witz zu verleihen, dessen Stärke eher in den Dialogen als in der Handlung liegt. Da wird zwar der Kontrast zwischen idealistischen Träumereien und kapitalistischer Realität verhandelt, aber stets aus ironischer Distanz, aus der Sebastian eher belächelt als bewundert wird. Auf der anderen Seite spiegelt Roman (Aaron Eichhorn) schon das Klischee des positivistischen, in technologischen Fantasien sich erschöpfenden „homo faber“, und Magdalena (Berna Celebi) entflieht erst spät ihrem etwas biederen Bild als ihren Mann bewundernde Ehefrau. Da ergibt sich sogar zwischen diesen beiden so etwas wie eine Aussprache über ihre Beziehung. Auf der anderen Seite öffnet sich Sebastian der anderen Frau in seinen literarischen Träumen mit Musil-Assoziationen, und Hannah versucht ihren Kinderwunsch anderweitig zu erfüllen.
Diese Szenen setzen die vier Ensemblemitglieder mit Spielfreude und Gespür für den humoristischen Gehalt der jeweiligen Situation um. Edda Wiersch spielt eine bis an die Grenze der Belastbarkeit vernünftige und auf zielgerichteten Konsens verpflichtete Hannah, während Daniel Scholz den frustrierten weil mit sich unzufriedenen Literaten mit all seiner intellektuell kaschierten Verstocktheit überzeugend karikiert. Aaron Eichhorn verleiht dem getriebenen Roman eine durch Dynamik verdrängte Angst vor dem Scheitern, wohingegen Berna Celebi etwas unter der vor allem zu Beginn nur mäßig konturierten Rolle leidet, später aber aufblühen kann.
Das Publikum dankte allen Beteiligten mit herzlichem Beifall.
Frank Raudszus
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