E.T.A. Hoffmann war ein Multitalent der Romantik und hat in seiner Novelle „Der Sandmann“ die Grenzen zwischen Fantasie und Realität verschwimmen lassen. Der französische Komponist Jacques Offenbach hat aus diesem Stoff seine nie vollendete Oper „Hoffmanns Erzählungen“ geschaffen, die den Künstler Hoffmann – ohne expliziten Bezug auf den realen „E.T.A.“ – in den Mittelpunkt stellt. Dieser schwärmt zwar von seiner fiktiven Idealfrau Stella, verfällt jedoch ausgerechnet der vom Physiker – Alchimist? – Spalanzani hergestellten und äußerlich authentisch anmutenden Puppe Olympia.
Nach diesem direkten Bezug auf den „Sandmann“ fügt Offenbach noch weitere Frauengestalten hinzu, denen Hoffmann verfällt. Antonia ist die Tochter einer an ihrer Kunst gestorbenen Sängerin und darf deshalb auf keinen Fall singen, doch unter dem Einfluss dubioser Männer – wie sie bei E.T.A. Hoffmann gang und gäbe sind, singt sie das erste und letzte Mal in ihrem Leben. Die venezianische Kurtisane Giulietta dagegen hat von einem anderen „dubiosen“ Zauberer die Aufgabe erhalten, Hoffmann durch Verführung endgültig zu vernichten. Wie Schlehmil seinen Schatten verliert er sein Spiegelbild an sie und damit den letzten Realitätsbezug.
Diese mit romantischer Transzendenz bis an den Rand gefüllte Geschichte hat – nach der letzten Inszenierung im Jahr 2012 – Dirk Schmeding für das Staatstheater Darmstadt in einer in gewisser Weise aktualisierten Form auf die Bühne gebracht. Dabei hat er sich für eine Groteske entschieden, die den Bezug zur heutigen Zeit vor allem durch Elemente des Bühnenbilds erhält, ohne deswegen auf den phantastischen Aspekt der Romantik verzichten zu müssen. So präsentiert Schmedings Inszenierung den Künstler Hoffman (Matthew Vickers) bereits im ersten Bühnenbild durch einen überdimensionierten, bis oben mit Bierflaschen gefüllten Kühlschrank als Trinker, dem der Alkohol seine vielfältigen Halluzination von Frauen wie Olympia (Juliana Zara), Antonia (Anna Schoeck) und Giulietta (Jana Baumeister) liefert. Die gewählte Darmstädter Biersorte verortet die Inszenierung darüber hinaus implizit in der Gegenwart. An den Wänden der heruntergekommenen Künstlerwohnung kleben Bildcollagen von Frauen, ihren Mündern und Augen. Und zum berühmten Lied von „Klein Zack“, vorgetragen von Hoffmann selber, lässt die Regie eine Gruppe von Tänzern in eben der erwähnten Bierflaschen-Verkleidung eine dazu passende Choreographie tanzen.
Auch der zweite Akt verbleibt lose in unserer Zeit, wenn Physiker Spalanzani – mit einer Antenne auf dem Kopf wie ein imaginierter Marschmensch – einem Hörsaal voller Zuhörer mit Operationsmützen die Erschaffung der Puppe Olympia erklärt. Hier lässt die aktuelle Diskussion über die Künstliche Intelligenz grüßen, und so bietet sich auch die Deutung von Hoffmanns sofortiger Verliebtheit in die verbreitete Begeisterung über die KI deuten. Und auch die Unkontrollierbarkeit der „Puppe KI“ zeigt Schmeding daran, dass Olympia die Natur in Gestalt einer Taube verzehrt und damit vernichtet.
Die Groteske hat jedoch den einen Nachteil, dass sie feinere dramaturgische Strukturen nicht wiedergeben kann – oder will. Die drei Frauentypen – die (vom Mann) lenkbare Puppe, die anstrengende sensible Künstlerin und die sexuell bedrohliche Kurtisane – werden hier zwar als (nicht nur) dem künstlerischen Mann erscheinenden Versionen der Frau präsentiert, aber eher als deren Karikaturen denn als ernst zu nehmende Figuren. Damit löst sich Schmeding bewusst von einer didaktisch-pädagogischen Linie, wie sie etwa das öffentlich-rechtliche Fernsehen pflegt, hin zu einer ironischen Distanzierung, die aber durchaus mit einer gewissen Erkenntnis verbunden ist. Nur will er diese Erkenntnis nicht dem Publikum „aufs Brot schmieren“, sondern lässt sie – um ihm Bild zu bleiben – unter dem Deckel der ironischen Show langsam gären. Vielleicht ist es aber auch einmal Zeit für die originelle Unterhaltung, die mit den menschlichen Schwächen in humorvoll distanzierter Form anstatt mit der Belehrung umgehen.
Letzteres ist Dirk Schmeding mit dieser Inszenierung in vollem Umfang gelungen. Von der ersten bis zur letzten Minute prägen Einfallsreichtum sowie Situationskomik bis hin zum Slapstick, Tempo und Witz der Bühnengestaltung die Inszenierung. Über weite Strecken kann man durchaus von einem Rausch der Farben und Ideen sprechen. Wobei dieser Rausch natürlich auch auf die Musik zutrifft, sowohl die Partitur von Jacques Offenbach als auch die Interpretation durch das Orchester unter GMD Daniel Cohen. Allerdings war dem Dirigenten beim Abschlussbeifall die Überwindung anzumerken, angesichts der Ereignisse in seiner Heimat ein derart witziges und schräges Werk zu dirigieren. Doch das Orchester war ihm mit seiner Professionalität eine große Hilfe.
Das Gesangsensemble zeigte sich wieder von der besten Seite. Hervorzuheben sind dabei vor allem Matthew Vickers als neu engagierter Tenor, der seine beeindruckende Stimme hier überzeugend zu Gehör bringt, und Juliana Zara, die der Olympia nicht nur künstlich-mechanische Bewegungen verleiht, sondern vor allem mit ihren unglaublichen Koloraturen beeindruckt. Den beiden stehen Jana Baumeister als Giulietta, Anna Schoeck als Antonia und Solgerd Isalv als Niklaus bzw. Muse kaum nach.
Der Chor, die Statisterie und das Tanzensemble runden diese ausgefallene Inszenierung überzeugend ab, was auch das begeisterte Publikum so sah.
Frank Raudszus
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