Zum Ausklang der Saison 2022/23 hatte sich GMD Daniel Cohen vom Staatstheater Darmstadt noch einen großen Auftritt des Orchesters vorgenommen: mit dem eineinhalbstündigen Klangrausch von Gustav Mahlers 2. Sinfonie feierte er das Ende – in der programmatischen Sprache dieser auch „Auferstehung“ genannten Sinfonie den „Tod“ – dieser Konzertsaison, um dann im September ausgerechnet mit Beethovens „Freude, schöner Götterfunken“ die Auferstehung in der neuen Saison feiern zu können.
Mahlers „Zweite“ übersteigt mit fünf Sätzen und neunzig Minuten Dauer den üblichen sinfonischen Rahmen deutlich und übertrifft auch noch Beethovens „Neunte“, mit der sie die Einbindung des Chores gemeinsam hat. Auch das wieder ein Stück programmatische Symmetrie der Konzertplanung.
Doch Mahler geht noch weiter: im letzten Satz lässt er nicht nur einen – in dieser Aufführung aus dem Opernchor und dem Symphonischen Chor Bamberg ausgesprochen breit aufgestellten – Chor Klopstocks „Auferstehungs“-Lied singen, sondern fügt noch eine Alt- und eine Sopranstimme mit Soloeinlagen hinzu. In diesem Konzert übernahmen Lena Sutor-Wernich und Jana Baumeister diese Partien.
Am Pult dirigierte GMD Daniel Cohen bei diesem Saisonabschluss höchstpersönlich und stellte sich damit der Herausforderung dieses auch und vor allem für Dirigenten kräftezehrenden Werkes, das an diesem Abend kein weiteres Musikstück neben sich duldete.
Der erste Satz begann mit tief und dramatisch einsetzenden Violoncelli, denen sich mit zeitlichem Versatz Bläsergruppen in einer Art Fanfare anschlossen. Die Bläser präsentierten anschließend ein sehnsuchtsvolles, entsagendes Thema, das man als typisch für die Spätromantik des „fin de siècle“ bezeichnen kann. Wie auch in der Literatur war diese Zeit durch einen gewissen Stillstand gekennzeichnet, der einerseits den Umbrüchen und den damit aufkommenden Unsicherheiten der Industrialisierung, andererseits der Sehnsucht nach einer vermeintlich „guten, alten Zeit“ der Klassik und Romantik zu verdanken war. Wagner, Gustav Mahlers bewundertes Vorbild, hatte die Epoche der entgrenzenden Musik mit seinen Opern eingeleitet, und Bruckner wie Mahler haben sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die Spitze getrieben. Man denke nur an das „Adagietto“ aus Mahlers „Fünfter“.
Im weiteren Verlauf des ersten Satzes ersetzte dann eine dramatische Passage die Sehnsucht, gefolgt von einer fast atemlosen Stille, die die Kontrabässe mit einem langsam sich entwickelnden Trauermarsch beendeten. Die Wechsel der Dynamik waren atemberaubend, und vor allem die hohen Tonlagen entschwanden bis an den Rand der Unhörbarkeit im weiten Raum des Konzertsaales. Dieser erste Satz bietet schon alles, was die Musik der Spätromantik aus den Klassik und Romantik übernommen, verfeinert und – ja – überspitzt hat. Hier versucht ein Komponist mit allen harmonischen und instrumentalen Mitteln, die Grenzen menschlicher Emotionen auszuloten. Dirigent und Orchester arbeiteten diese Kontraste und Extreme nicht nur mit höchster Präzision, sondern auch mit viel Herzblut heraus.
Der zweite Satz ließ das von den Extremen mitgenommene Publikum durch ein liedhaftes Thema ein wenig aufatmen. Die rhythmischen, dem Volkslied verwandten Motive wanderten in verschiedenen Variationen vor allem durch die Streichergruppen und erschufen dabei einen geradezu freudig strahlenden Grundtenor. Die versetzt gezupften Violinen, Violen und Celli sorgten hier noch für eine reizvolle musikalische Abwechslung.
Den dritten Satz eröffnete ein veritabler Paukenschlag. Anschließend entwickelte sich ein tänzerisches Thema im 3/4-Takt, das in seiner schelmischen Motivführung zeitweise an Richard Strauss´ allerdings wesentlich jüngere Werk „Till Eulenspiegel“ erinnerte. Ein geradezu gewaltige Passage täuschte ein Finale vor, das jedoch noch einige Zeit auf sich warten ließ, indem noch einmal verschiedene Motive in wechselnder Dynamik erklangen.
Der vergleichsweise kurze vierte Satz brachte dann die erste Gesangseinlage. Lena Sutor-Wernich trug das Lied „Urlicht“ aus Mahlers Zyklus „Des Knaben Wunderhorn“ vor. Hier stehen menschliche Not und Pein ebenso im Mittelpunkt wie die Sehnsucht nach Gott und dessen Trost. Die inhaltliche Düsternis dieses Textes spiegelt sich in der Musik, die sich fast bis zum Stillstand verlangsamt und der Alt-Stimme weitgehend das musikalische Feld überlässt. Die Streicher und Harfen umspielten dabei sanft die abgedunkelte Stimme der Sängerin und verstärkten noch den Eindruck des Textes.
Diese düstere Stimmung brach der Beginn des fünften Satzes mit einem geradezu brachialen Fortissimo des gesamten Orchesters auf. Das Chaos dieser Eruption ging erst in eine orchestrale Grabesruhe über, und dann schälte sich langsam in den Bläsern das angedeutete Motiv des „dies irae“ heraus, das im Verlauf dieses letzten Satzes immer wieder in verschiedenen Variationen aufscheinen sollte. Zwischendurch fegte ein Schlagzeuggewitter über Orchester und Publikum, Hörner erklangen aus dem „Off“ wie ferne Erlösungsfanfaren, die Flöten schwangen sich zu silbrigen Tonscharen auf, und schließlich setzte der Chor verhalten bis getragen mit dem Auferstehungslied ein. Lena Sutor-Wernich und Jana Baumeister lieferten dazu mit hoher stimmlicher Klarheit die solistischen Beiträge. Nach einem schier endlos sich steigernden Finale von Chor und Orchester endete die Sinfonie mit einem so dezisiven wie befreienden Akkord.
Der begeisterte Applaus des Publikums setzte fast unmittelbar wie eine Erlösung ein. Alle Spannung fiel von Ensemble und Zuhörern ein, und letztere erwiesen dem gesamtem musikalischen Personal auf der Bühne Dank und Beifall für diese großartige Leistung. Orchester und Dirigent schoben sich gegenseitig ihren Beifall zu, was sich etwa darin zeigte, dass der erste Geiger Wilken Ranck – und mit ihm das Orchester – sich weigerte, den Beifall anzunehmen, bis Dirigent Daniel Cohen diesen ausreichend lange genossen hatte. Dessen Gesichtszüge zeigten deutliche Spuren der eineinhalbstündigen Schwerstarbeit, die er am Pult erfolgreich geleistet hatte.
Nachdem alle aktiven Teilnehmer und Teilnehmerinnen dieses beeindruckenden sinfonischen Abends gewürdigt worden waren, erschien noch ein Orchestermusiker, um in bewegenden und launigen Worten den langjährigen Solo-Cellisten Michael Veit vor vollem Hause in den Ruhestand zu verabschieden. Dieser konnte vor Rührung nur mit Mühe die Fassung bewahren, was das Publikum noch zu zusätzlichem, herzlichem Beifall motivierte.
Frank Raudszus
No comments yet.