„Der heutige Tag“ von Helga Schubert ist eine Liebesgeschichte und gleichzeitig eine Leidensgeschichte. Helga Schubert erzählt in ihrem „Stundenbuch der Liebe“ aus ihrem Alltag mit ihrem schwerkranken, dementen Mann Johannes.
Sie lässt uns als Leserinnen und Leser teilnehmen an ihrem Alltag, der für sie gefüllt ist mit der Pflege ihres Mannes. Bei aller Mühsal, die sie manchmal fast verzweifeln lässt, ist sie doch getragen von der tiefen Liebe, die sie seit 50 Jahren mit ihrem Mann verbindet. Sie ist mittlerweile über 80, er dreizehn Jahre älter.
Wir erfahren vom Beginn dieser Liebe, der belastet ist, denn beide sind verheiratet. Er hat drei Kinder, sie einen Sohn. Dennoch überwinden sie alle Hürden, auch weil sie als junge Frau nicht bereit ist, auf Dauer in der zweiten Reihe zu stehen.
Getragen wird die neue Ehe von inniger Verbundenheit, von intensivem intellektuellem Austausch sowie von der Fähigkeit der beiden, dem anderen Freiraum zu lassen. Er ist der angesehene Psychologe mit Professur an der Humboldt-Universität in Berlin und schließlich auch Maler. Sie ist Psychologin und Psychotherapeutin in verschiedenen Einrichtungen, später Schriftstellerin.
Intellektuelles Leben in der DDR ist auch gefährdetes Leben. So wird insbesondere sie von der Stasi misstrauisch beobachtet. Dennoch bleiben sie auf seinen Wunsch in der DDR. Wer aus dem Freundeskreis Informationen an die Stasi weitergab, werden sie später nach dem Mauerfall in ihren Akten lesen. Das Sommerhaus in Meteln in Mecklenburg wird schließlich zum Rückzugsort von der Großstadt, wo sie ganz aufeinander bezogen leben.
Helga Schubert erspart uns nichts bei der Beschreibung des Lebens mit dem schwerkranken, dementen Mann. Wir erfahren von den alltäglichen Ritualen, die sie pflegt, um ihm so viel Zuwendung und Liebe zukommen zu lassen, wie es in ihrer Kraft steht. Es gibt kleinere und größere Missgeschicke und Unfälle, denen sie meist ganz alleine ausgeliefert ist. Außer dem Pflegedienst, der einmal morgens kommt, hilft niemand. Alle haben Ausflüchte, besonders seine Kinder, warum sie sich nicht grundsätzlich beteiligen oder im Notfall auch einmal einspringen können.
Dennoch kommt für sie seine Einweisung in ein Heim nicht in Frage, obwohl sie selbst in ihrem hohen Alter mit ihren eigenen Kräften haushalten muss.
Die Tage gehören ihm, die Nächte gehören ihr. Dann sitzt sie am Laptop und schreibt. Auf diese Stunden wartet sie den ganzen Tag, dieser Rückzug in ihr eigenes Leben gibt ihr Kraft, jeden Tag weiterzumachen, nicht bitter zu werden, nicht sehnsuchtsvoll zurückzuschauen, sondern den jeweiligen „heutigen Tag“ zu bewältigen.
Helga Schubert erzählt in der für sie typischen klaren, schnörkellosen Sprache. Nie ist sie larmoyant, sondern von großer Entschlossenheit, die Aufgabe anzunehmen, die sie sich auferlegt hat: an guten wie an schlechten Tagen.
Für die Leserinnen und Leser, die in ebenso fortgeschrittenem Alter sind wie Helga Schubert, mag es zunächst schwierig sein, sich mit dem Thema körperlicher Verfall und Demenz zu befassen, lebt man doch in der Sorge, selber eines Tages betroffen zu sein, sei es von eigener Demenz oder der Partnerin bzw. des Partners. Helga Schubert gelingt es jedoch, diese Sorge zu lindern. Sie lebt uns in ihrer Erzählung vor, wie es gelingen kann, die Würde des Kranken zu bewahren, ohne sich selbst aufzugeben.
Dazu gehört auch, noch eigene Zukunftsperspektiven zu entwickeln, sollte es für sie noch eine Zeit nach dem Tod des Kranken geben. Helga Schubert ist ganz klar in diesem Gedanken, der keineswegs verwerflich ist. Dazu gehört allerdings auch die Sorge, was mit dem geliebten Menschen wird, wenn man als Pflegende doch zuerst gehen sollte.
Es bedarf wohl einer sehr großen Zuneigung, um das leisten zu können, was Helga Schubert beschreibt. Das werden Fernerstehende nicht können, schon gar nicht die eigenen Kinder, die in ihren je eigenen Lebenssituationen selbst ausgelastet sind.
Dieses Buch ist tröstlich und Mut machend, ohne dabei Illusionen zu verbreiten. Liebevolle Zuwendung ist eine große Aufgabe, an der auch Helga Schubert in manchem Augenblick verzweifelt, wenn etwa häufige Schlafunterbrechungen sie an den Rand ihrer Kräfte bringen. Aber alles ist leichter, wenn man die Aufgabe annimmt, statt zu jammern; wenn es gelingt, den jeweils heutigen Tag zu bewältigen, statt zu klagen, Hilfe zu suchen, wenn es nötig ist, und die liebevolle Zuwendung als tägliches Ritual zu leben.
Helga Schubert ist nie indiskret. Sie zeigt einen Kranken, der noch Liebe geben kann und dankbar für jede Zärtlichkeit ist.
Als Leserin folge ich ihr mit Bewunderung und Staunen, dass sie alle Ratschläge in den Wind schlägt, die eine Heimbetreuung oder gar eine erhöhte Morphium-Dosis vorschlagen.
Ich bin dankbar für dieses ehrliche Buch, das nichts beschönigt und dennoch Mut macht. Möge es vielen Leserinnen und Lesern ebenfalls Mut machen.
Das Buch ist im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen. Es hat 267 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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