Mit dem rasanten Wachstum der Leistung digitaler Rechner und nicht zuletzt durch deren Zusammenschalten zum „Internet“ (das allerdings schon viel älter war) vor allem seit den neunziger Jahren hat sich auch die Entwicklung virtueller Systeme aus kleinen Anfängen zu einem mächtigen Industriezweig fortgesetzt. Die anfängliche Beschränkung auf den Ersatz teurer Tests schwieriger Abläufe wie Auto-Crashs oder Militäranwendungen ist bald einer allgemeinen Verwendung dieser Technologie bis hin zur Unterhaltungsbranche gewichen.
David J. Chalmers, Professor für Neurowissenschaften und Philosophie in New York, widmet sich diesem Thema auf so tiefgründige wie gewagte Weise. Dabei geht er von der theoretischen Möglichkeit aus, ganze Ökosystem bis hin zu unserer analogen Welt auf Rechnern zu simulieren, und lotet die Randbedingungen und Implikationen einer solchen Vorgehensweise aus.
Um von vornherein den Verdacht einer nur eingeschränkt ernst zu nehmenden SF-Literatur zu unterlaufen, beginnt er mit einer geradezu revolutionären Hypothese: der Möglichkeit, dass unsere gesamte Welt, von der häuslichen Familie über die Gesellschaft mit Politik, Klimakrise und anderen Themen bis hin zur letzten bekannten Galaxie des Universums nur eine Simulation einer „Meta-Gesellschaft“ auf deren Digitalsystem ist. Um auch gleich den Vorwurf der Absurdität abzuwehren, zeigt er nach guter alter Popper‘scher Manier, dass man diese Hypothese nicht falsifizieren kann. Eine „perfekte“ Simulation berücksichtige halt alle Einwände und vermeintlichen Hürden. Natürlich sieht Chalmers dies nicht als Beweis einer simulierten Welt an, jedoch lasse sich das Gegenteil ebenfalls nicht beweisen.
Ausgehend von diesem logischen Geniestreich, kann er dann die Grundzüge und Probleme einer solchen simulierten Welt ernsthaft durchdeklinieren. Dazu gehört natürlich, dass sich eine solche Simulationssituation in beide Richtungen als Kette beliebig weiterdenken lässt, im Sinne von verschachtelten Simulationen. So wie wir („Menschen“) heute schon recht mächtige Simulationen komplexer Systeme implementieren können, könnten dies auch ausreichend intelligente „Wesen“ innerhalb dieser Simulationen selbst tun, so wie wir es – vielleicht! – als Elemente einer simulierten Welt selbst tun.
Um seine Hypothese glaubwürdig zu gestalten, muss er den Begriff der „Realität“ in simulierten Welten klären. Das tut er, indem er schlüssig darlegt, dass in einer perfekten Simulation die „virtuellen Objekte“ der virtuellen Welt für deren intelligenten Bewohner – etwa uns Menschen – Realitätscharakter besitzen. Das, was wir wahrnehmen, ist für uns Realität, gleich ob simuliert oder nicht. Diese Feststellung ist sofort nachvollziehbar, wenn wir uns probeweise als simulierte Wesen begreifen, und dass müssen wir dann auch den „Bewohnern“ anderer virtueller Welten zugestehen.
Das führt Chalmers dann bald zum Begriff des „Bewusstseins“, dem wohl schwierigsten, weil noch ungeklärten Phänomen alles Lebens in unserer Welt. Chalmers sieht, dass wir als Menschen nicht rational über uns hinausdenken können – „glauben“ schon – und daher die Funktionsweise dessen, was wir als Bewusstsein bezeichnen, nicht logisch fassen können. In diesem Zusammenhang geht er die gesamte Ideengeschichte der Menschheit durch, von Platons Höhlengleichnis über Descartes „cogito ergo sum“ bis zu Kants „Ding an sich“. Anhand dieser Vorbilder zeigt er, dass herausragende Geister schon immer an der „Echtheit“ unserer Sinneswahrnehmungen gezweifelt haben und den Ort der Weltentstehung im menschlichen Geist angesiedelt haben. Dann stellt sich natürlich die Frage, ob die Welt wirklich „so“ aussieht, wie wir sie sehen, oder ob wir uns in einem 3D-Kino befinden. Eingehend diskutiert er die Stärken und Schwächen der Theorie der oben genannten Philosophen, zieht jedoch daraus den Schluss, dass wir die „echte“ Realität, was immer das ist, nicht erkennen können. In diesem Sinne ist für uns das real, was wir wahrnehmen, und das gilt auch für jedes simulierte System.
Auch die Frage, ob von uns geschaffene virtuelle Wesen ein Bewusstsein entwickeln können, stellt er und schließt die Möglichkeit zumindest nicht aus. Denn wenn wir „nur“ virtuelle Wesen einer Simulation sind und unserer Meinung nach über so etwas wie ein Bewusstsein verfügen, muss dass auch für weitere, ausreichend komplexe Simulationen gelten.
Konsequenterweise folgt aus dem Diskurs über das Bewusstsein der über den „Geist“. Dieser ist als der Überbau des Bewusstseins zu verstehen und zeigt sich unter anderem in der intellektuellen Bearbeitung all dieser Themen in Chalmers Buch – und nicht nur dort. Descartes sah in in seiner dualistischen Auffassung den Geist noch außerhalb des Körpers, ohne die Schnittstelle zwischen diesem frei schwebenden Geist und dem seine Weisungen empfangenden Körper definieren zu können. Die heutige Naturwissenschaft verortet den „Geist“ ganz profan im materiellen Gehirn, ohne ihn deshalb genauer definieren zu können, und krankt dabei an der selben Unfähigkeit, mit den eigenen geistigen Mitteln den Geist fassen zu können. Chalmers sieht aber deutlich das Problem, dass in der virtuellen Welt der (digitalen) Simulationen dieser „Geist“ in gewissem Sinne auf der Simulationsebene, also außerhalb, angesiedelt ist, was wiederum die dualistische These unterstützt. Die Frage nach der Verortung des Geistes in durchgehend virtuellen Welten bleibt dabei offen, es sei denn, es gibt eine oberste „echte“ Ebene, sozusagen eine „Welt 0.0“, die den Geist emittiert und durch die Kette der Simulationen schickt. Diese Frage muss dann auch Chalmers offen lassen.
Wer vom Geist spricht, kann Moral und Ethik nicht außen vor lassen, und so thematisiert Chalmers auch die Werte-Skala in virtuellen Welten. Werden diese in einer Simulation vorgegeben, oder entwickeln sie sich selbst in der simulierten Welt? Hier bemüht Chalmers noch einmal unsere in tausenden von Jahren gewachsenen Moralvorstellungen und fragt sich, ob diese sich auch in virtuellen Welten entwickeln können. Diese Frage muss er schließlich bejahend beantworten, weil er ja den virtuellen Welten – soweit sie eine perfekte Simulation darstellen – vollen Realitätsgehalt zugesteht.
Abschließend diskutiert Chalmers noch verschiedene grundlegende Fragen virtueller Welten, die an die Grenzen der Logik führen. Darunter fällt die Frage, ob der bloße Zufall in Staubwolken ausreichender Größe zu virtuellen Welten beliebiger Art führen könnte.Theoretisch ist das zwar denkbar, doch er setzt die Grenze bei dem Prinzip von Ursache und Wirkung, das erst wirklich zu „realen“ Welten führt. Dabei stellt er sich die Frage, ob die Welt letztlich aus reiner Mathematik besteht, so wie es manche Mitglieder des „Wiener Kreises“ aus den zwanziger Jahre sahen oder sehen wollten. Struktur als solche ist für Chalmers zwar ein wichtiges Element realer virtueller Welten, aber sie reiche nicht aus für das, was wir in einer gewissen Weise das „Leben“ oder die „Welt“ nennen.
Vieles bleibt bei diesem faszinierenden Buch am Ende offen, aber das ist nur natürlich bei einem Thema, das letztlich unser gesamtes Weltverständnis aus den Angeln hebt. Was die Menschen als „natürlich“ oder „elementar“ empfinden, ist unter Umständen nur auf der Basis digitaler Prozesse „künstlich“ erzeugt. Es ist – auch naturwissenschaftlich – durchaus legitim, das über Jahrhunderte gewachsene (natur)wissenschaftliche Weltverständlich grundsätzlich in Frage zu stellen. Doch sei den Lesern die Frage nach dem Zweck einer solchen Weltsimulation erlaubt. Wozu sollte der ungeheure Aufwand einer vollständigen Simulation einer Welt wie der unsrigen dienen? Natürlich können wir uns eine um Zehnerpotenzen mächtigere Welt vorstellen, aber diese würde ein Universum mit anderen Ressourcen erfordern. Denn unsere Welt ist mit ihren durchaus – nach unserem heutigen Verständnis! – begrenzten Ressourcen nicht in der Lage, sich selbst vollständig zu simulieren. Wozu sollte also eine „Meta-Welt“ den Aufwand der Simulation eines ganzen Universums treiben? Die Antwort, dass wir es nicht wissen, ist etwas zu schwach.
Es bleibt nach der Lektüre des Buches der Eindruck eines faszinierenden, kohärenten Gedankengebäudes, das zwar nicht widerlegbar, aber auch nicht beweisbar ist. In gewisser Weise hat Chalmers mit seiner nicht falsifizierbaren Hypothese zu Beginn eine logische Selbstimmunisierung betrieben. Er hätte genauso gut die Hypothese aufstellen können, dass die Hypothesen eines D.J. Chalmers stets wahr sind, sozusagen eine Umkehrung des alten Satzes „Alle Kreter lügen“.
Dennoch ist dieses Buch in höchstem Maße lesenswert, wenn es auch keine typische Strandlektüre für heiße Sommermonate ist.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 638 Seiten und kostet 38 Euro.
Frank Raudszus
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