Stellt man in einer – fast – beliebigen Runde die Frage nach naturwissenschaftlichen Genies des 20. Jahrhunderts, so fällt mit Sicherheit zuerst der Name Einstein. Fragt man in einem nicht-naturwissenschaftlichen Kreis nach dem Namen Kurt Gödel, so wird mit ebenso großer Sicherheit Schulterzucken folgen, es sei denn, jemand hat Hofstadters Buch „Gödel, Escher, Bach“ gelesen. Dabei gilt Kurt Gödel in Mathematiker-Kreisen seit den fünfziger Jahren als eines der größten Logik-Genies, wobei der heute in Frage gestellte „Genie“-Begriff noch ohne jegliche Ironie verwendet wurde.
Der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist Stephen Budiansky hat sich dieses in all seinen Schattierungen einzigartigen Wissenschaftlers angenommen und mit dem vorliegenden Buch eine detaillierte Lebensgeschichte Gödels vorgelegt. Dabei verdrängt er zwar nicht die fachlichen Aspekte, ja, würdigt sie sogar ausdrücklich, doch ist er sich auch der Tatsache bewusst, dass eine detaillierte Diskussion von Gödels mathematisch-logischen Leistungen entweder den Leserkreis drastisch reduzieren oder einen breiten Leserkreis überfordern würde. Denn in Gödels Arbeiten geht es nicht um konkrete arithmetische oder geometrische Probleme, sondern um im höchsten Grade abstrakte Logik.
Die Mathematiker legen spätestens seit der Neuzeit allergrößten Wert auf eindeutige Beweisbarkeit ihrer Sätze. Widersprüche darf es nicht geben, und die mathematischen Regeln entwickeln sich streng logisch aus wenigen – nicht mehr hinterfragbaren weil evidenten – Axiomen wie „A=A“. Das konnte den großen Mathematiker Hilbert dazu verleiten, in den 1930er Jahren vom bevorstehenden Endziel eines vollständigen und widerspruchsfreien Logikgebäudes zu schwärmen, wobei er seinen Schülern gleich eine Reihe von noch zu beweisenden Gesetzen mitgab.
Eben diese Selbstgewissheit des Logikers zerstörte der junge Kurt Gödel im Jahre 1936 mit dem Beweis, dass es mathematische „Wahrheiten“ gibt, die sich aus elementaren logischen Gründen nicht beweisen lassen. Diese als „Unvollständigkeitssatz“ bekannte Erkenntnis besagt im Grunde genommen, dass ein mathematisches System nie gleichzeitig vollständig und widerspruchsfrei sein kann. Umgangssprachlich könnte man es so ausdrücken, dass die Vollständigkeit immer den Widerspruch enthält, allerdings ist die tatsächliche Herleitung natürlich um Dimensionen komplexer als diese anschauliche Darstellung.
Dieser Unvollständigkeitssatz zieht sich durch Gödels gesamte Biographie und hat ihn buchstäblich verfolgt. Auch hier ist festzustellen, dass einzigartige Intelligenzleistungen in jungen Jahren bei den Urhebern nicht nur Stolz sondern auch Selbstzweifel auslösen können. Denn mit solch einer Spitzenleistung hat sich der Urheber selbst einen Standard gesetzt, den er meist nicht ein zweites Mal einhalten kann. So war es auch bei Kurt Gödel, der sich Zeit seines Lebens als „Versager“ fühlte, da er nach diesem großen Satz die – vor allem von ihm selbst – hochgeschraubten Erwartungen nicht mehr erfüllt zu haben glaubte.
Budianskys Buch zeigt auch, dass der abgegriffene Spruch von „Genie und Wahnsinn“ durchaus nicht ein Klischee ist. Im Falle Gödel hat er sich auf tragische Weise bewahrheitet. Schon früh zeichnete er sich durch starke Introvertiertheit, ja: Selbstisolation, aus. Mit zunehmendem Alter traten Paranoia und Hypochondrie immer stärker auf. Er sah überall Verschwörungen, seien es die von Ärzten gegen seine Gesundheit, von Verwandten gegen seine Lebensführung und Beziehungen oder von Politikern gegen die Wissenschaft. Seine Kollegen und Freunde in Princeton versuchten mit allen Mitteln, ihn zu beruhigen und in normales Fahrwasser zurück zu lotsen, aber anfangs mit bescheidenem, am Ende mit keinem Erfolg mehr.
Budiansky zeigt diese psychische Entwicklung im Rahmen der vollständigen Lebensgeschichte Gödels. Er kam noch als k.u.k.-Bürger im Jahr 1906 im mährischen Brünn als Sohn einer wohlhabenden Familie zur Welt. Budiansky schildert das Lebensgefühl in Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg, das durch die kulturelle und intellektuelle Strahlkraft Wiens geprägt war und das Gefühl ewigen Friedens und Wohlergehens verinnerlicht hatte. Budiansky vermeidet bewusst das heute beliebte „k.u.k.-Bashing“ und beurteilt den Vielvölkerstaat aus der damaligen Perspektive. Denn ihm geht es nicht um eine historische Einordnung, sondern um die Atmosphäre, in der Gödel aufwuchs. Dabei zitiert er bekannte literarische Größen und Werke wie Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und lässt diese wenn auch nur scheinbar glückliche Zeit Mitteleuropas noch einmal Revue passieren.
Im Wien der dreißiger Jahre folgt dann der Ausbruch des lange verdrängten Judenhasses und die beginnende Vertreibung der Juden aus politischen und wissenschaftlichen Positionen. Obwohl der noch junge Gödel keinen jüdischen Hintergrund hatte, war er durch seine Verbindungen zu den meist jüdischen führenden Wissenschaftlern und deren liberal-rationale Ideen schnell vorbelastet. Wie in einem Krimi schildert Budiansky die schließlich erfolgreichen Bemühungen seiner bereits rechtzeitig in die USA gegangenen wissenschaftlichen Freunde und Mentoren wie Oskar Morgenstern oder John von Neumann, ihn aus dem für ihn immer gefährlicheren (Nazi-)Österreich ins beschauliche Princeton an der Ostküste der USA zu holen, wo schon Albert Einstein residierte.
Budiansky zeigt die schwere Eingewöhnung Gödels und seiner Frau Adele in Princeton, die durch Gödels ängstliche und überall Gefahren für sich und seine Frau witternde Art nicht einfacher wurde. Er zeigt aber auch, welche Hochachtung und Zuwendung seine – überwiegende europäischen – Freunde für ihn aufbrachten, allen voran Albert Einstein, der ihn zu einem seiner ganz wenigen Freunde machte.
Im Rahmen dieser Lebensgeschichte erfährt der Leser auch viele Details über die Strategie der USA-Regierung, europäische Wissenschaftler mit allen Mitteln anzulocken. Dafür schufen sie extra das „Institute for Advanced Studies (IAS)“, in dem die Spitzenwissenschaftler zu traumhaften Gehältern frei und ohne Vorgaben forschen konnten. Die Vertreibungspolitik der Nazis kam ihnen da zupass, und die US-Behörden taten alles und erfolgreich, um diese Wissenschaftler einschließlich Gödel nach dem Krieg in den USA zu halten. Keiner ging mehr nach Europa zurück, weil dort, wie in Österreich, die Wissenschaftler der Nazi-Zeit nach kurzer Anstandszeit wieder ihre alten Positionen besetzten und niemand auch nur den Versuch machte, die vertriebenen – meist jüdischen – Wissenschaftler zurück zu holen.
So blieb auch Gödel dort, einerseits, weil seine Kollegen alle dort blieben und er sie nicht missen wollte, andererseits, weil seine zunehmende Paranoia ihn in wachsende Angst vor dem alten Österreich versetzte. Budiansky schildert dann Gödels langsamen psychischen Verfall, der zwar immer wieder von klaren Zeiten und wissenschaftlichen Arbeiten unterbrochen wurde, aber nicht mehr aufzuhalten war. Einsteins Tod im Jahr 1955 setzte Gödel dabei besonders zu, und die anderen Freunde und Kollegen konnten ihn nicht ersetzen. Trotz des sehr abstrakten Betätigungsfeldes Gödels und seiner Kollegen in Princeton liest sich die Beschreibung der Jahre bis zu Gödels Tod im Jahr 1978 spannend und ausgesprochen informativ. Man erliegt keinen Augenblick der Versuchung, das Buch wegen zu großer Längen wegzulegen, obwohl wissenschaftlich oder politisch – immer mit Bezug auf Gödel – nicht mehr so viel geschieht.
Das Buch ist auch für Nicht-Mathematiker oder -Naturwissenschaftler verständlich und leicht lesbar geschrieben, da es letztlich ein tragisch endendes Wissenschaftlerleben beschreibt und keine mathematische Formeln. Was allerdings bei der Lektüre stört, sind die Mängel der Übersetzung. So verwendet der Übersetzer anstelle des Konjunktiv I (indirekte Rede) stets den Konjunktiv II, vor allem wenn es um Hilfsverben geht. Da meint oder sagt ständig jemand, er „hätte“ dieses oder jenes getan oder „wäre“ an einem, bestimmten Ort gewesen, anstelle der korrekten „habe“ und „sei“.Man mag nicht glauben, dass der Übersetzer diese feine Unterscheidung der deutschen Sprache nicht kennt, und kann deswegen den Eindruck nicht verdrängen, es handele(!) sich hier um eine ideologisch geprägte „vereinfachte Sprache“.
Das Buch ist im Propyläen-Verlag erschienen, umfasst 453 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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