Über die Schwächen vieler Opern-Libretti im Allgemeinen und der von Peter Tschaikowskys „Eugen Onegin“ im Speziellen haben wir bereits detailliert in der Rezension der Wiesbadener Inszenierung dieser Oper im Jahr 2004 nachgedacht. Diese Aussagen stehen auch heute noch, ja, es ließe sich sogar noch Einiges hinzufügen. Etwa, warum Onegins Absage an Tatjanas plötzliche Liebeserklärung ihm latent angelastet wird. Kann man sie nicht auch als verantwortungsvolle Reaktion sehen? Oder die weitere – nur auf Onegins eigenen Text zurückgeführte – Annahme, seine kosmopolitische Lebensweise sei falsch und er sei rundherum gescheitert? Würde man eine gescheiterte Existenz bei Bällen der obersten Schicht überhaupt einladen?
Doch wir wollen an dieser Stelle die Ungereimtheiten des Librettos nicht weiter diskutieren, sondern der neuen Inszenierung von Isabel Ostermann am Staatstheater Darmstadt unsere ganze Aufmerksamkeit schenken.
Da fällt bereits bei der ersten Szene die Verengung der Bühne auf einen grau gemusterten zentralen Guckkasten auf. Dies wird gerade bei russischen Schauspielen – Tschechow lässt grüßen! – gerne genutzt, um die emotionale Enge und den bleiernen gesellschaftlichen Rückstand der Provinz zu verdeutlichen. Doch bei „Eugen Onegin“ steht diese Sicht eigentlich nicht im Vordergrund. Im Gegenteil: Lenski und Onegin sind offene Freigeister, und Onegins kosmopolitische Umtriebigkeit sowie seine mangelnde Heimatverbundenheit werden ihm sogar negativ angekreidet. Olga wird als ausgesprochen lebensfreudig und Mutter Larina bodenständig und pragmatisch charakterisiert. Und in irgendeiner Weise seelisch eingesperrt – sieht man einmal von Tatjanas selbstgewählter Introvertiertheit ab – ist auch keine der Figuren. Da bleibt nur die Vermutung, die Regie habe die Gefühle auf kleinem Raum verdichten wollen, um sie umso stärker zum Ausdruck zu bringen. Das nimmt aber diesem Bühnenbild einen diskursiv erklärbaren Grund und reduziert es auf ein dramaturgischen Beiwerk.
Allerdings verzichten die Regie und das Bühnenbild (Stephan von Wedel) auf jeglichen Wechsel dieses Konzeptes. Auch bei den beiden zentralen Festen verharrt die kleine Bühne in ihrer bewusst grauen Kargheit. Keine Kronleuchter, keine herrschaftlichen Räume, keine festlichen Kostüme. Letztere sind sogar ganz bewusst schlicht gehalten und bilden eher die heutige Mittelschicht mit Jeans und karierten Hemden ab. Die gesellschaftliche Elite – Fürst Gremin – erscheint dann in Uniform bzw. in eher matronenhaftem Kostüm.
Die Handlung wird trotz der üblichen Spieldauer von etwa zweieinhalb Stunden gestrafft und intelligent abstrahiert. Dabei fallen einige durchaus gute Ideen auf. Wenn die introvertierte Tatjana sich ihrer plötzlich erwachenden Liebe bewusst wird, öffnet sich in der grauen Rückwand eine Tür mit leuchtend blauem Hintergrund, und wenn sie später ihren Liebesbrief an Onegin verfasst, erstrahlt dieses Blau über die gesamte Rückwand wie ein befreites Lächeln.
Der Ball, auf dem Onegin den letztlich für Lenski und ihn selbst fatalen Flirt mit Olga beginnt, spielt sich in dieser Inszenierung ebenfalls in einem eher ländlichen Milieu ab, was die Szene erfreulich lebensnah gestaltet und ihr die in historische „echten“ Inszenierungen übliche Steifheit und Lebensfremdheit nimmt. Onegin ist hier ein unverstellt gelangweilter Zeitgenosse, der sich ohne bestimmte Ziele und Zwecke einfach daneben benimmt und seine – der eigenen Ziellosigkeit geschuldete – schlechte Laune auslebt.
Und das Duell zwischen Onegin (David Pichlmaier) und Lenski (David Lee) findet nicht in der üblichen realistischen Manier mit Pistolen und Theaterblut statt, sondern als virtuoser, mit dem Tod Lenskis endender Tanz der beiden Kontrahenten umeinander. Wobei dieser Tod dann nahtlos in eine virtuelle Wiederauferstehung Lenskis in Onegins Gewissen mündet, das ihn – in Gestalt eben dieses von ihm erschossenen Freundes – über Jahre verfolgt und ihm kaum ein Entrinnen ermöglicht. Das ist eindrucksvoll gemacht und bringt die Not Onegins auch ohne Worte auf den Punkt. Das zu diesem über ein halbes Leben ausgeweiteten Duell der berühmte Walzer erklingt, verleiht der Szene einen Hauch von schwarzem Humor.
Die Arien von Lenski und Tatjana sind Höhepunkte ausgesungener Emotionen. David Lee und Megan Marie Hart werfen sowohl sängerisch als auch darstellerisch all ihr Können auf die Bühne und holen sich verdienten, anhaltenden Sonderbeifall. Dagegen erinnert die Rolle von Onegin im Laufe des Abends immer mehr an Don Giovanni. Beide sind als Rollen ohne große Emotionen und damit Arien ausgelegt. Doch während Mozarts Verführer ohne Reue ins Grab fährt, erkennt Onegin zum Schluss seine große Lebensslüge, und David Pichlmaier verleiht dieser Schlussszene noch einmal dramaturgische Höhe und emotionale Tiefe. Obwohl auch hier die Frage auftritt, wieso Onegin nach Jahren des Umherwanderns plötzlich seine Liebe zu einer Frau entdeckt, deren Liebeserklärung er einst aus nachvollziehbaren Gründen abgelehnt und – zumindest laut Libretto! – nie öffentlich breitgetreten hat. Das ist wohl eher dem Bedürfnis des Komponisten zuzuschreiben, sein spezielles erotisches Leid des gesellschaftlich unmöglichen Auslebens musiktheatralisch umzusetzen.
In weiteren Rollen überzeugen Katrin Gerstenberger mit viel Stimmpräsenz als Mutter Larina und Lena Sutor-Wernich als lebensfrohe und ausgesprochen quirlige Olga, die aber im letzten Teil der Oper leider beide nicht mehr auftreten.
Der Chor spielt in dieser Inszenierung eine sehr präsente Rolle. Gleich zu Beginn beeindruckt er mit choralartigen Gesängen, die stark an russischen Kirchengesang erinnern, um dann nahtlos in lebensfrohe Volkslieder überzugehen. Später wird er in unterschiedlichen Szenen entweder als schweigende – oder singende – Volksmenge auftreten und dadurch den kammerspielartigen Charakter der Handlung immer wieder aufbrechen.
Das Orchester unter der Leitung von Johannes Zahn setz vor allem auf den emotionalen Charakter der Handlung und formt ihn musikalisch um, ohne deswegen in pure Sentimentalität oder überzogene Dramatik zu verfallen. Die Musik ist stets als tragende Basis präsent, ohne deswegen das Bühnengeschehen zu übertönen.
Sieht man einmal von den Schwächen des Librettos ab, kann man diese Inszenierung als gelungen, über lange Strecken als beeindruckend betrachten.
Frank Raudszus
No comments yet.