In gewissem Sinne führt der Titel dieses Buches in die Irre, denn mit dem Namen „Orest“ verbindet der humanistisch durchschnittlich gebildete Deutsche die griechische Antike und nicht das im Untertitel „Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526 – 1535“ indirekt angesprochen „dunkle“ Mittelalter. Letzteres erwähnt der Autor bewusst nicht in der oben angeführten Form, weil er die herrschende historische Meinung zu diesem Thema in dem vorliegenden Buch gerade widerlegen will.
Die Geschichtsschreibung hat die Zeit zwischen dem „Untergang“ – Anführungsstriche hier bewusst gesetzt – des römischen Reiches und der frühen Neuzeit – Stichwort „Renaissance“ – als eigene Epoche unter der Bezeichnung „Mittelalter“ geführt, wobei wegen des vermeintlichen intellektuellen Tiefschlafs gerne das Beiwort „dunkel“ zugefügt wurde und wird. Jussen jedoch vertritt wie viele jüngere Historiker die Meinung, dass die holzschnittartige Einteilung in fest definierte und charakterisierte Epochen der Realität nicht gerecht wird. Wo traditionelle Historiker Brüche und Zäsuren sehen, sehen Jussen und seine Mitstreiter nur gesellschaftliche Transformationen, die jedoch nicht mit kulturellen oder intellektuellen Werturteilen marginalisiert werden dürfen.
Diese Transformationen gilt es zu beschreiben und natürlich nachzuweisen, denn gefühlte Abweichungen der historischen Realität gegenüber den aktuellen Lehrmeinungen führen schnell zum subjektiv gefärbten historischen Roman, um nicht zu sagen „Schinken“.
Jussen ist sich der Tatsache bewusst, dass diese Beweise aus zwei Gründen schwer anhand von Schriftmaterial zu führen sind. Der größte Teil des „mittelalterlichen“ Schrifttums ist wegen des verfallsträchtigen Pergaments verschwunden, und die erhaltenen Schriftstücke stammen überwiegend aus klerikalen Quellen und sind damit von vornherein parteiisch in dem Sinne, dass das Weltliche entweder im Sinne der Kirche gedeutet oder einfach ignoriert wurde. Deshalb hat sich Jussen an Belege höherer Haltbarkeit gehalten, und das sind Bilder, Münzen, Siegel und Monumente. Die Architektur von Gebäuden lässt sich über weite Strecken nicht für solche Beweise verwenden, weil über lange Zeit nur Kirchen und Kathedralen überlebten, während einfache Wohnhäuser verbrannten oder anderweitig dem Zahn der Zeit zum Opfer fielen.
Jussen beginnt mit dem römischen Grabmal der Turtura („Turteltaube“) anfangs des 6. Jahrhunderts, das die Wendung von der männlichen Abstammungsideologie Roms zu der lebenslangen Monogamie-Vorstellung der christlichen Gesellschaft belegt. Diesem Grabmal stellt er das „Geschenk des Orest“ gegenüber, einem der letzten Konsuln Roms, der auf seiner steinernen Ernennungstafel in nostalgischer Verzweiflung das alte Rom festzuhalten versucht.
Intensiv beschäftigt sich Jussen auch mit dem Auseinanderdriften von West- und Ostrom („Byzanz“), etwa am Beispiel von Reiterdenkmälern. Während Ostrom einen klaren Schnitt hin zu einer „christozentrischen“ Weltsicht durchführte und Machtsymbole wie den Herrscher zu Pferde durch vorab festgelegte und kanonisierte Bilder Christi ersetzte, also den Herrscher nur als demütigen Stellvertreter Christi auf Erde sah, lehnte Westrom in Gestalt der neuen, außerhalb von Italien residierenden Kaiser dies ab, zeigte die Herrscher auf Münzen und Siegeln weiter mächtig zu Pferde und fügte nur ergänzende christliche Symbole hinzu. Karl der Große ließ seine Intellektuellen sogar ein Pamphlet gegen die in Ostrom herrschende Anbetung christlicher Ikonen verfassen, das jedoch in den Archiven des Vatikans verschwand.
Ein eigenes Kapitel gilt den Architekten der ersten Jahrhunderte nach der „Zeitenwende“, die zum Beispiel in dem Grundriss eines St. Gallener Klosters das Lebensgefühl dieser Zeit abbildeten. Aus diesem Grundriss leitet Jussen anhand der ungewöhnlich vielen Altäre die Ablassideologie des späten ersten Jahrtausend ab. Nachdem man die Sünden der Menschen und die Buße – Psalme singen – dafür in eigenen Registern in ungeahnte Höhen getrieben hatte, musste man zwecks Arbeitsfähigkeit des Volkes diese Buße durch professionelle Büßer – sprich: Priester – gegen Entgelt durchführen lassen. Somit konnte sich das arbeitende Volk das ewige Leben teuer erkaufen, und die Kirche wurde reich. Doch Jussen geht es nicht um die anachronistische Anklage gegen diese Praktiken, sondern lediglich um das Verständnis der damaligen gesellschaftlichen Struktur. Nachdem der Monotheismus christlich-dogmatischer Prägung den eher liberalen Pantheismus Roms ersetzt hatte, stand das Jenseits an der Spitze der Werteskala, und die Kirche als Urheber dieses Glaubenssystem wusste es zu perfektionieren und für die eigenen Machtzwecke zu nutzen.
Weiter geht Jussen zum Ende des ersten Jahrtausends, als die Wikinger mitteleuropäische Städte plünderten und die Bevölkerungen massakrierten. Als die Bürger der von Fürsten und Bischöfen verlassenen Städte – die Machthaber hatten mit Privatfehden untereinander Wichtigeres zu tun – sich auf Basis der Gleichheit zwecks Verteidigung zusammentaten, schien dies der Kirche und den Fürsten schlimmer als der Einbruch der Wikinger, und es folgten grausame Rachefeldzüge nicht etwa gegen die Wikinger sondern gegen die „Verschwörer“ in den Städten, die die Rangordnung der Entscheidungsträger unterlaufen hatten. Auch diese beginnende Selbstregierung frühstädtischer Kommunen zeigt Jussen anhand von Bildern, zum Beispiel in Siena.
Ein umfangreiches Kapitel widmet er den Familien, die in ihrer jeweils aktuellen horizontalen Verflechtung das alte, vertikale Ahnensystem Roms ersetzten. Am Beispiel eines drastischen Holzschnitts, auf dem eine Frau ihren verstorbenen Ehemann zwecks Gewinnung eines neuen Mannes aus dem Grab reißt und sogar Schlimmeres tut, zeigt er den dramatischen Wechsel von überlebenslanger Monogamie zu seriellen Ehen mit all ihren dramatischen Folgen. Am augenfälligsten wird dies im „Annenkult“, der Mitte des zweiten Jahrtausends Anna, die Mutter der Jungfrau Maria, als dreimal verheiratete Frau mit drei „Maria“-Töchtern und einer ganzen Reihe christlich auffälliger Enkel zeigt. Dass diese christliche „Patchwork Family“ im direkten Umfeld Christi für den Vatikan inakzeptabel war, versteht sich von selbst.
Ähnliches zeigt Jussen im letzten Kapitel des Holbein-Bildes „Gesetz und Gnade“, das die alte – „katholische“ – Welt des Gesetzes und der göttlichen Strafen einem neuen, helleren der Gnade Christi, wie es die Reformation gebracht hat, gegenüber stellt. Mit weit ausholenden, sowohl ästhetischen als auch bildtheoretischen und interpretatorischen Argumenten bringt er dieses Bild als typischen Stellvertreter des späten – von ihm nicht so benannten – „Mittelalters“ und seiner typischen weltanschaulichen Konflikte ins Spiel. Die Lektüre des Buches lohnt sich allein schon wegen dieses Kapitels, was jedoch die anderen nicht abwerten soll.
Jedes Bild oder darstellerische Kunstwerk, das Jussen zur Begründung seiner gesellschaftlichen Theorie über die Zeit des „Mittelalters“ heranzieht, wird nach allen Regeln verschiedener „Künste“ seziert und analysiert, bis es seine Geheimnisse des jeweiligen Zeitgeistes dem Leser offenbart. Die Lektüre ist nicht immer leicht oder gar unterhaltend, sondern erfordert stets die Aufmerksamkeit, die seriöse wissenschaftliche Werke wegen der Komplexität ihres Gegenstandes zur Bedingung machen. Wenn man sich allerdings durch dieses Buch gearbeitet hat, wir wollen nicht vom einfachen „Lesen“ reden, dann hat man viel über die Zeit nach dem Ende des römischen Reiches gelernt und wird nie mehr über das „dunkle Mittelalter“ reden.
Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 480 Seiten und kostet 44 Euro.
Frank Raudszus
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