Idealerweise hätte die Uraufführung der „Symphony for Soprano, Bass Baritone, Chorus and Orchestra“ der Engländerin Ethel Smyth (1858-1944) am Totensonntag stattgefunden, doch die Pläne eines Theaters lassen sich nicht immer an den Kontext von Zeit und Werk anpassen. So fand die erste Aufführung dieses beeindruckenden Werks über Tod und Vergänglichkeit ausgerechnet im Monat der aufgehenden Blüten und des erwachenden Lebens statt.
Die Erweiterung des Titels zur „szenischen“ Uraufführung impliziert, dass es sich hier um eine Art Oper handelt. Je nach Perspektive kann man das zwar so sehen, aber wegen der fehlenden Handlung im eigentlichen Sinn wollen wir bei der Bezeichnung einer Sinfonie bleiben. An diesem Abend spielten das Orchester und der Chor die Hauptrollen, was allerdings die Leistung der beiden Solisten nicht schmälern soll.
Das Staatstheater hat für dieses hybride Werk eine eigene Szenerie entworfen. Die Zuschauertribüne befindet sich – mit deutlich verringertem Platzangebot – im Bühnenhintergrund mit Blick auf die üblichen Zuschauerränge. Das Orchester nimmt die gesamte Vorderbühne in Anspruch, die nach Beginn bis etwa Kopfhöhe abgesenkt wird. Die – kaum existente – Handlung spielt sich zwischen Orchester und Zuschauertribüne und im Zuschauerraum ab.
Ein zum Tode Verurteilter (Georg Festl) wartet seit unbestimmter Zeit auf seine Hinrichtung. Georg Festl sitzt dazu in einer Art Sandkasten und knüpft aus einem scheinbar unendlichen Vorrat an kurzen Bindfäden einen Lebensfaden zusammen, während er sich sängerisch mit dem bevorstehenden Ende seines Protagonisten beschäftigt. Doch hier wartet und hofft kein Florestan sehnsüchtig auf die Rettung durch Leonore, sondern hier sind alle Würfel gefallen und das tödliche Schicksal ist endgültig.
Die Situation sowie die Musik aus dem Graben erzeugen gleich zu Beginn eine Atmosphäre, die einerseits an die rätselhafte Welt von E.T.A Hoffmann und andererseits an die entrückte Stimmung bestimmter Wagner-Opern erinnert. Doch diese Analogien lösen sich nach kurzer Zeit auf und gehen in andere Assoziationen über.
Denn der Gefangene beginnt, angesichts des bevorstehenden Todes seine Seele nach dem Sinn und Wert seines Lebens zu befragen. Die Seele antwortet in Gestalt der Sängerin Jana Baumeister mit metaphorischen, stellenweise kryptischen Worten, deren Grundtenor auf die Aufforderung zum Loslassen hinausläuft. An dieser Stelle wird es etwas schwierig, wenn man den Worten wirklich folgen will. Zwar artikulieren beide Solisten sehr deutlich, aber die Tatsache, dass es sich hier um einen ästhetisch hoch aufgeladenen und dazu auch noch englischen Text handelt, erschwert die „ad hoc“-Verständlichkeit erheblich. Selbst der Blick auf die deutsche Texttafel hilft da wegen der laufenden Weiterentwicklung des Textes wenig. Man sollte sich den Gesamteindruck dieses Werks daher nicht aus den gesungenen Texten, sondern aus der Musik selbst erarbeiten.
Diese nimmt mit zunehmender Spieldauer immer mehr den Charakter eines Requiems an, wie wir es von den einschlägigen Komponisten – Mozart, Verdi, u.a. – kennen. Die ehrfürchtige Beschwörung der Vergänglichkeit zieht sich durch alle musikalischen Figuren und Harmonien. Anklänge an die großen Namen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind unüberhörbar, sei es nun Brahms oder Mahler. Doch diese Anklänge kommen nie auch nur in die Nähe einer Nachahmung oder gar eines Plagiats; hier ist alles Originalklang der Komponistin Ethel Smyth.
Die Sinfonie folgt trotz ihres requiemartigen Charakters nicht der typischen liturgischen Struktur dieser Musikgattung, sondern interpretiert den Text von Henry Bennett Brewster musikalisch. Insofern ist das Stück ein „Gesamtkunstwerk“ im wagnerschen Sinn, und der Text spielt eine durchaus wichtige Rolle. Dabei teilt er sich weitgehend auf die Seele (Jana Baumeister) und „die Stimmen“ (Chor) auf, während die Person des Gefangenen nach der ersten Phase nicht mehr auftritt. Während Jana Baumeister die seelische Situation des Gefangenen mit Todesangst und Lebenswillen schon früh eindringlich zum Ausdruck bringt, tritt der Chor erst später auf. Einzelne Figuren in dunklen, mit roten Bändern durchwirkten Kostümen wandern wie Schatten über die abgedunkelte Bühne, überdimensionierte, als Henkersknoten geformte rote Bänder hinter sich herziehend. Irgendwann – und auch das ist als Metapher zu verstehen – fallen weitere, nun lose Bänder vom Bühnenhimmel und hängen luftig im hohen Bühnenraum. Sie stehen für die innere Befreiung von Todesangst und Diesseitsbindung. Damit verleihen sie der Bühne die Anmutung einer Kathedrale mit den Bändern als Bogenelemente. Doch man darf die roten Bänder auch als Adern verstehen, durch die das Blut des Leben pulst. Die Interpretation bleibt hier bewusst offen und diktiert keine Sicht des Geschehens. Der Chor verleiht den „die Stimmen“ genannten Figuren dann sängerisch ein Eigenleben, wenn sie die Befreiung von aller Angst beschwören und das Loslassen preisen. Ethel Smyth hat Brewsters Texte über die natürliche Seite der Vergänglichkeit kongenial in Musik umgesetzt, die der Endlichkeit des menschlichen Lebens mit tröstlichem Einverständnis begegnet.
Diesen Trost nimmt auch die Musik auf, wenn sie gegen Ende der etwas über einstündigen Sinfonie hoffnungsvollere Töne anstimmt. Das verdichtet sich vor allem in dem Hornsignal – ironischerweise ein Pendant zum „Fidelio“ – kurz vor dem Ende, darf hier aber nicht als irdische Rettung, sondern als Erlösung in der Ewigkeit verstanden werden. Die „Stimmen“ stehen für die Seelen der ins wie immer auch geartete Jenseits entrückten Toten, und sie nehmen den Todgeweihten tröstend in ihren Kreis auf. Dies bebildert die Regie dadurch, dass der Gefangene mit Hilfe der Stimmen – vulgo: des Chores – ein Kostüm überstreift, das ihn zu einer „Stimme“ werden lässt. Von diesem Augenblick an gehört er bereits zum Kreis der in die Ewigkeit Entrückten.
Man mag diese Lobpreisung des Jenseits und der Ewigkeit aus säkular-rationaler Perspektive kritisch betrachten, der musikalischen Wirkung kann man sich jedoch nicht entziehen. Das Staatsorchester unter der Leitung von Johannes Zahn und der von Ines Kaun eingestellte Chor verleihen dieser Aufführung eine ganz eigene spirituelle Wirkung, die an die Grenzen menschlicher Existenz rührt und eine Versöhnung von Leben und Tod zum Ziel hat. Ein bewegender Abend, den man noch lange in Erinnerung behalten wird.
Das Publikum dankte allen Beteiligten mit begeistertem, lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
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