In der Theaterszene gilt seit einiger Zeit der Spruch, man könne heute keine klassischen Theaterstücke mehr im Original auf die Bühne bringen, da diese die wahren Probleme der Gesellschaft zu spiegeln nicht mehr in der Lage seien. Abgesehen von ihrer fragwürdigen Pauschalität enthält diese Aussage natürlich einen wahren Kern, den eine gelungene Inszenierung identifizieren und herausarbeiten muss. Im Fall „Hamlet“ ist dies mit „Prince of Denmark“ gelungen, bei anderen Stücken weniger.
Mit Hugo von Hofmannsthals Klassiker „Jedermann“ steht ein Theater-Klassiker ersten Ranges zur Verfügung, der im Laufe der vielen Salzburger Festspieljahre zu einer wahren Event-Ikone geronnen ist. Das hohe Pathos und die gnadenlose Kritik an der Lebensführung des – reichen? – Menschen bieten sich geradezu für eine Dekonstruktion dieser Moralikone an. In Darmstadt hat sich der Regisseur Kieran Joel dieser Aufgabe angenommen und das Stück unter dem programmatischen Titel „Jedermann ist niemand und niemand ist Jedermann“ erst umgestaltet und dann für die Bühne der Kammerspiele selbst inszeniert.
Bereits das Bühnenbild sendet eine satirisch gefärbte Botschaft aus: statt moralgesättigten Ernstes – „memento!“ – begrüßt ein blitzender Vorhang aus Glitzerlametta die Zuschauer, und dahinter warten fröhliche Farben. Dann erscheint zu allem Überfluss auch noch der Allmächtige – nein: nicht der Intendant! – im weißen Gewand, mit weißem Bart und weißen Flügeln und beginnt zu bejammern, dass heute niemand mehr an ihn glaube oder ihn gar brauche. Schnell schlägt das göttliche Klagen in das eines frustrierten Schauspielers um, der hier eine völlig veraltete und daher überflüssige Rolle spielen muss. Den naiv mit viel Eigenbedeutung daherkommenden Tod im schwarzen Comic-Kostüm schiebt er ebenso verächtlich zur Seite wie den mit gehörntem Pappkopf auftretenden Teufel, der den „Jedermann“-Prolog satirisch um einen Verweis auf dessen großen Vorgänger erweitert, aber angesichts des jammernden Gottes unter Protest die Bühne verlässt. Mit diesem Abgesang auf das Transzendenz-Trio ist der Kurs für die Neu-Inszenierung dieses Stückes abgesteckt.
Kieran Joel hat Hofmannsthals Personentableau einerseits drastisch gekürzt, andererseits erweitert. Die Vettern, Fräuleins und Büttel treten als Figuren höchstens noch im Text auf, dafür ist die Rolle des Jedermann auf drei Schultern verteilt: Naffie Janha, Béla Milan Uhrlau und Sebastian Schulze. Diese drei übernehmen dann nebenher auch noch die anderen Rollen, und als vierte im Bunde tritt Jasmin-Nevin Varul am Ende noch als Buhlschaft auf.
Die Verteilung der Jedermann-Rolle auf drei Darsteller hat eine Auflockerung des gesprochenen Textes zur Folge, denn hier wird sprachlich so viel verhandelt, dass es aus einem Munde leicht lesungsartigen Charakter annehmen würde. Schon so weckt die Inszenierung gerade im ersten Drittel stellenweise Assoziationen an eine Soziologievorlesung, wenn das Jedermann-Trio auf einer Meta-Ebene die Kritik an der Selbstinszenierung des „Reichen“ dem Eventcharakter der Festspiel-Aufführung mit entsprechendem Publikum und kaum erschwinglichen Eintrittskarten gegenüberstellt. Schon hier, zu Beginn, etabliert Joel die schnellen Wechsel zwischen fiktionalem Stück mit originalen „nit“-Versen und der Meta-Ebene eben dieser Aufführung im Jahre 2023. Dazu zitieren die Darsteller auch schon mal soziologische Werke wie Reckwitz´ „Gesellschaft der Singularitäten“, die eben das kritisch beleuchten, was die Event-Inszenierungen dieses Moral-Klassikers des frühen 20. Jahrhunderts selbst praktizieren. Dazu passt dann die Opfergeschichte des armen Mannes, die das materielle Mitleid moralisch geradezu erzwingen soll. Der große Pappkopf des armen Mannes erinnerte den Rezensenten dabei an einen derzeitigen Großschauspieler Berliner Provenienz, der 2021 in Salzburg den „Jedermann“ gespielt hat. Als sich dieser arme Mann dann noch als „Lars“ vorstellt, ist der Verweis gar nicht mehr so subtil versteckt. Später wird Sebastian Schulze diesen Verweis noch erweitern, wenn er auf seine intelligent(er) aussehende linke Gesichtshälfte verweist wie sein Berliner Kollege in seinem großen „Ego-Film“.
In einer anderen Szene hält Naffie Janha in einer gemischten Rolle aus Jedermann, ihr selbst und einer typischen heutigen jungen Frau einem kleinen Mädchen einen diese völlig überfordernden Vortrag, der nur zum Ziel hat, ihre eigene Unsicherheit in der gegebenen Situation zu überspielen. Das ist angesichts der Fallhöhe zwischen diesen beiden Partnern geradezu gespenstisch, aber in seiner Art exemplarisch für ein weit verbreitetes Redebedürfnis aus Überforderung.
Soviel zur darstellerischen Selbstreferenz des Theaters, die sich jedoch mit vielen kleinen Szenen durch die gesamte Inszenierung zieht. In einer großartigen Szene setzt sich Jedermann alias Sebastian Schulze mit seiner archetypischen Mutter auseinander, die in ihrem Kontrollwahn das schauspielerische Leben ihres Sohnes bis ins Detail planen will, jede Abweichung als persönlichen Affront betrachtet und auf Kritik an ihrer Übergriffigkeit distanziert-beleidigt reagiert. Und der Vater blicket stumm, um den Dialog herum! Dass die Pappkopfstimmen dieser Rollen im geschlechtlichen „Crossover“ ertönen, ist, wenn nicht aktivistischer Genderwahn, selbstkritisches Spiel mit eben diesem.
Auch der aktuellste Zeitgeist findet hier seine ausgepolsterte Nische, wenn Jedermann über längere Zeit mit seiner Buhlschaft per Click über Instagram kommuniziert und dabei einschließlich „cringe“ auf keinen sprachlichen Gag von „social media“ verzichtet.
Auch der Tod kommt noch einmal zu einem für ihn frustrierenden Auftritt. Nach Jahrhunderten von Angst und Zittern bei seinen Bühnenauftritten begegnet er hier einem Jedermann, der den modernen Zeitgeist mit „jeden Tag wie den letzten genießen“ und „dann war´s das eben“ widerspiegelt und dem Tod sein angestammtes Recht auf Schrecken und Jammern raubt. Das besonders Raffinierte an dieser Szene besteht darin, dass trotz Jedermanns „cooler“ Selbstdarstellung der Eindruck bleibt, dass auch dies nur eine Pose ist, hinter der sich die nackte Angst vor dem Nichts versteckt.
Die Szene mit dem „Mammon“ steht auch in dieser Inszenierung an zentraler Stelle. Rund gepolstert und wohlgenährt präsentiert sich das personifizierte Geld im goldenen Anzug und räsoniert über den Wert des Geldes und den Minderwert der es konsumierenden armen Menschen. In einer rasanten Rechnung vergleicht er in schnöder Gleichgültigkeit das Vermögen des derzeit reichsten Mannes der Welt mit dem jährlichen Einkommen eines Schauspielers und lässt das Publikum die Anzahl der Jahre berechnen, die dieser arbeiten müsste, um das Vermögen zusammenzusparen. Nebenbei entwirft er dabei noch ein desaströses Haushaltsbuch des armen Gegenüber.
Die Selbstreferenz des Theaters treibt im Trauma des Schauspielers noch einmal einem Höhepunkt entgegen, wenn die Vermischung der Ebenen des fiktionalen Spiels und der Position des Darstellers einschließlich seiner eigenen Sehnsüchte, Ängste und enttäuschten Hoffnungen in einem verteilten Monolog kunstvoll und durchaus mit satirischem Einschlag zelebriert wird. Da schonen die Darsteller sich und ihre Branche in keiner Weise, sondern stellen sich geradezu in die vorderste Front der Selbstreflexion. Dabei sollte einem trotz der durchaus vorhandenen Situationskomik das Lachen eigentlich im Halse stecken bleiben, denn alle die vermeintlich schlauen oder abgeklärten Bemerkungen über das Leben und die Liebe grenzen entweder an Allgemeinplätze oder stellen – von der Regie wohlkalkulierte – Selbstentblößungen dar. Das Ganze wird serviert als eine Mischung aus originalen „Jedermann“-Versen und dem jeweiligen intellektuellen bzw. zeitgeistigen Kommentar der Darsteller als Vertreter ihrer Generation.
Wenn dann die Buhlschaft – angeblich wegen einer Bahnverspätung! – verspätet erscheint, erntet sie vom Ensemble Vorwürfe, weil jetzt kein Text mehr für sie da sei und keiner wisse, wie man jetzt im Wortsinn „coram publico“ mit der Situation umgehen solle. Daraufhin hält sie von der Rampe eine revolutionäre Rede über Gleichheit und Gerechtigkeit, doch bevor diese in einen sozio-didaktischen Vortrag abgleitet, sorgte die Regie mit einem letzten Gag für die passende Pointe.
Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert und spendete kräftigen, anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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