In ihrem 2021 erschienenem autobiographischem Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ erzählt Emine Özdamar ihren Weg aus der Türkei nach dem Militärputsch von 1971. Sie reist 1976 mit Touristenvisum von Istanbul nach Ostberlin, denn als Mitglied der türkischen Arbeiterpartei hat sie in der Türkei als Schauspielerin und links orientierte Intellektuelle keine Zukunft mehr. In ihrem Roman schildert sie, wie sie als türkische Schauspielerin und Regieassistentin trotz ihrer westlich orientierten Bildung um Anerkennung kämpfen muss und dabei mit geringsten finanziellen Mitteln ihren Alltag bewältigt.
Ihre erste Station ist Berlin, die damals noch geteilte Stadt. An der Volksbühne in Ost-Berlin erhält sie ohne Probleme ein Engagement als Regieassistentin. Als Schauspielerin hat sie jedoch keine Aussichten auf eine große Rolle, eine türkische Frau bleibt in der damaligen Zeit eine Putzfrau, obwohl sie in Istanbul eine anerkannte Schauspielerin war. Ihr gelingt es jedoch, sich bei den Regisseuren Benno Besson und Matthias Langhoff Anerkennung zu verschaffen. So kann sie schließlich die Rolle der türkischen Putzfrau auf der Bühne ironisch einsetzen.
Ihre Existenz ist materiell höchst prekär. In West-Berlin lebt sie in verschiedenen WGs ohne Aufenthaltsgenehmigung, nachdem das Touristenvisum abgelaufen ist. Getragen ist sie von ihrem literarischen Fundament, für sie sind Heinrich Heine und Bertolt Brecht die bedeutsamen Namen, die sie geprägt haben. Gleichzeitig geht ihr Blick immer wieder in die Türkei, wo politische Verfolgung, Verhaftungen und Folter an der Tagesordnung sind. Der Kontakt zu den Eltern, selbst linksorientierte Intellektuelle, ist auf das Telefon beschränkt.
Ihre zweite Station in Europa ist Paris, wohin sie dem Regisseur Benno Besson folgt. Auch hier ist ihr Status illegal. Sie kann keine feste Anstellung erhalten, arbeitet projektbezogen als Regieassistentin. Eine eigene Wohnung hat sie nicht, kommt aber immer wieder bei Schauspielerfreunden oder Freunden von Freunden unter. Paris ist jedoch der Ort, an dem sie die Ausgrenzung als Türkin nicht erfährt, vielmehr begegnen ihr die Menschen mit viel Sympathie und Hilfsbereitschaft, offenbar auch, weil sie eine sehr hübsche junge Frau ist.
Als Leserin ist man erstaunt, wie sie ihre völlig ungeklärte Lebenssituation akzeptiert, einfach im Jetzt lebt.
Erst an ihrer dritten Station in Bochum wird sich ihr Leben stabilisieren. Sie erhält eine Festanstellung als Regieassistentin bei Claus Peymann, nachdem sie endlich in der Türkei alle notwendigen Unterlagen für eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland erhalten hat. Der erste Erfolg kommt mit einem eigenen Theaterstück zum Migrationsthema. Auch privat stabilisiert sich ihre Situation. Nach einigen heftigen, aber kurzen Liebesbeziehungen findet sie in Bochum mit Karl Kneidl, dem Bühnenbildner, einen Lebenspartner.
Was macht nun diese chaotisch anmutende Lebensgeschichte bedeutsam? Es ist diese andere Migrationsgeschichte, als wir sie landläufig kennen, denn es ist eine sozial sehr privilegierte, weil Emine, im Roman Min genannt, sich im Wesentlichen in einem deutschen Umfeld bewegt, nicht in einer türkischen Blase lebt, wenn auch die in Paris lebende türkische Jugendfreundin Eufterpi ihr sehr nahe steht.
Dennoch begleitet sie die politische Situation in der Türkei auf allen Etappen. Wir erfahren so über den Bruch in der türkischen Gesellschaft, wo nach dem Militärputsch eine liberale und kritische Öffentlichkeit, wie es sie seit Kemal Atatürk gab, zunehmend unterdrückt wird.
Emine Özdamar geht es auch um die Geschichte, den Völkermord an den Armeniern ebenso wie den Bevölkerungsaustausch von griechischen Türken und türkischen Griechen nach der Bildung des türkischen Staates 1923 unter Kemal Atatürk. Die Vertreibung und Verfolgung der Armenier ist in Mins Familie immer noch virulent, die armenisch-stämmige Großmutter ist davon für ihr Leben traumatisiert.
Min selber erfährt die Folgen des Bevölkerungsaustauschs ganz konkret auf der kleinen türkischen Insel, die in Sichtweite der griechischen Insel Lesbos liegt. Auf dieser Insel hat sie seinerzeit den Entschluss gefasst, die Türkei zu verlassen und nach Lesbos überzusetzen. Eine kleine verlassene Orthodox-Kirche auf der türkischen Insel symbolisiert die Dramatik des Bevölkerungsaustauschs. Wo einst griechisches religiöses Leben stattfand, herrschen heute nur Leere und Verlassenheit, der Innenraum ist verwahrlost, die Fresken sind kaum noch zu erkennen.
Für Min ist dies ein Ort, an dem die Vergangenheit immer noch erlebbar ist, weil die Ereignisse bei der Inselbevölkerung immer noch das tägliche Leben begleiten. Sie wird mehrfach zu dieser Insel zurückkehren. Sie wird ein bedeutungsvoller Ort für sie und ihre Familie werden.
Emine Özdamar erzählt ihre Geschichte und gerade auch die Geschichte der Türkei stets aus ihrem subjektiven Erleben heraus. Dazu gehören intensive Träume und Tagträume, die sie in andere Zeiten versetzen, die dann in konkreten Traumbildern für die Leserin anschaulich und erlebbar werden.
Die Poetisierung ihrer Geschichte gelingt ihr durch Bilder und Motive, die den Roman durchziehen. So sind es etwa die Krähen, die als kluge Tiere zum ersten Mal auf der kleinen Insel zu ihren Beratern werden und die ihr in zukünftigen Entscheidungssituationen den Weg weisen. Die Bilder bieten der Leserin eine Möglichkeit, am Innenleben der Protagonistin teilzunehmen.
Emine Özdamar hat zudem eine große kreative Kraft, mit der sie die Atmosphäre und die Lebensbedingungen ihrer jeweiligen Umwelt einfängt. Dazu gehören lyrische Einlagen, sowohl mit eigenen Gedichten als auch mit Gedichten großer europäischer Dichter, meist Heine und Brecht, aber auch Shakespeare und Goethe. Dazu gehört für sie die Verknüpfung mit der türkischen Kultur, sie zitiert zum Beispiel den türkischen Dichter Nâsim Hikmet, der die türkische Literatur nachhaltig geprägt hat, obwohl er als Kommunist das Land verlassen musste und lange Zeit zensiert war. Für Emine Özdamar ist dieser Dichter eine Leuchtturmfigur für den kritischen Geist der Türken.
Insgesamt geht es ihr in ihrem Roman darum, die fortschrittlichen, an der Moderne orientierten Bevölkerungsgruppen in der Türkei vorzustellen und Anerkennung für die poetischen und intellektuellen Leistungen der Türken zu gewinnen.
Für uns als deutsche Leserinnen und Leser ist das ein wichtiger Roman, weil er uns zwingt, Stereotypen und unterschwellige Vorurteile abzulegen, vielmehr die Vielfalt türkischen Lebens zu sehen.
Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass der Verlag den Roman besser lektoriert hätte. Als Leserin fühlte ich mich zunehmend gestört durch die detailgenaue Weitschweifigkeit, durch die vielen Wiederholungen, die zum Teil sprachlichen Schwächen (z.B. lange Sätze mit nachklappendem Verb, die ich mehrfach lesen musste) und die bisweilen aufgesetzten Bilder und Motive. Dem Roman hätte eine Straffung gut getan, das hätte der Authentizität keinen Abbruch getan.
Das Buch ist im Suhrkamp Verlag erschienen, es hat 720 Seiten und kostet als gebundenes Buch 28 Euro, als Taschenbuch 15 Euro.
Elke Trost
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