Wenn wir hier ein Buch wie dieses rezensieren, dann verwenden sowohl die Buchautorin als auch wir einen allgemein akzeptierten Zeichenvorrat, der in der Schrift wie auch in der gesprochenen Sprache auf je eigene Weise verwendet wird. Dabei setzen wir das Verständnis und die Akzeptanz dieses Zeichenvorrats als selbstverständliche kulturelle Fähigkeit des „homo sapiens“ voraus.
Doch all diese Fähigkeiten waren den Menschen nicht von Anfang an eigen im Sinne einer göttlichen Schöpfung, sondern entwickelten sich über lange Zeiträume evolutionär. Aus dem tumb-stummen Primaten wurde so der denkende, sprechende und schreibende Mensch.
Silvia Ferrara, Professorin in Bologna, hat diesen Entwicklungsprozess – soweit überhaupt möglich – in dem vorliegenden Buch nachzuzeichnen versucht. Das Problem besteht darin, dass die Menschen gerade in der Anfangszeit dieser Entwicklung keine bewussten und konsistenten Fortschrittsbelege überliefert haben, da die Fähigkeit dazu ja nur langsam über Jahrtausende entstand. Man muss sich also auf der Suche nach den Anfängen mit wenigen und rätselhaften Zufallsfunden zufrieden geben.
Diese finden sich vor allem in Höhlenmalereien, weil hier weder Witterung noch andere externen Einflüsse zerstörerisch wirken konnten. Die Autorin stellt detailliert die einzelnen Artefakte aus verschiedenen Höhlen in Frankreich (Cosquet, Chauvet, Lascaux) vor und diskutiert deren Aussagen. Dabei beklagt sie, dass Höhlenmalereien und -Skulpturen vorschnell als vorzeitliche „Kunst“ ohne jeglichen Zeichenwert deklariert werde. Der kommunikative Hintergrund werde dabei zu wenig oder gar nicht betrachtet. Das betrachtet sie angesichts der äußerst dünnen „Beweislage“ zwar nicht für illegitim, aber aus demselben Grunde für unzureichend. Sie schätzt die Wahrscheinlichkeit, dass man in der Steinzeit zwecks Hinterlegung wichtiger Informationen in enge Höhlen hinabgestiegen ist, höher ein, als dass man dies aus individuellem künstlerischem Drang getan habe. Das bedeutet natürlich im Umkehrschluss, dass man den Artefakten einen ikonisch-praktischen Sinn zuordnen muss.
Als seriöse Wissenschaftlerin hütet sie sich allerdings, über solche Zwecke im Sinne eines konkreten Kontextes zu spekulieren. Natürlich liegt es nahe, der eigenen Phantasie freien Lauf zu lassen und beliebige Narrative aus bestimmten Symbolen, Zeichen und Gegenständen zu erstellen. Aber eine solche Vorgehensweise wäre aufgrund der äußerst schwachen Beweislage pure Vermutung, jedoch mit dem Namen einer Wissenschaftlerin verbrämt. So beschränkt sie sich darauf, die Artefakte möglichst vieler Orte detailliert zu beschreiben, um so eine repräsentative Breite zu erzielen, die wiederum die Grundlage für eine Interpretation sein könnte.
Dabei geht sie von den französischen Höhlen zu entsprechenden Orten in Nord-, Zentral- und Südafrika, nach Australien, in die Türkei und in den Nahen Osten. Dabei weist sie einen hohen Übereinstimmungswert der dargestellten Themen nach. Immer wieder werden Tiere, Menschen in Jagdsituationen oder Körperteile, etwa Hände, dargestellt. Manche Darstellungen legen bestimmte typische Situationen nahe, andere erzielen ihren – nie eindeutigen! – symbolischen Wert aus ihrem Abstraktionsgrad oder der Intensität. Dabei schält sich die Erkenntnis heraus, dass hiermit offensichtlich Informationen über bestimmte Lebensumstände übermittelt werden sollten.
Ferrara zeigt in ihrem Buch deutlich, dass sich die Menschen bereits in die frühen Steinzeit auf den Weg des abstrakten Denkens machten und versuchten, aus ihrer Umwelt Zeichen für eine allgemeine Kommunikation zu entwickeln. Die immer noch beschränkte Zahl der Funde erlaubt bisher keine schlüssige Erklärung dieser Zeichen und Symbole, doch weitere, gezielte Ausgrabungen könnten die Basis für eine wissenschaftlich belastbare Erklärung deutlich verbreitern.
In welchen Zeiträumen eine solche Erkundung des geistigen „Sprungs“ der Menschheit erfolgen könnte, steht in den Sternen, aber hier ist jedenfalls schon einmal ein spannender Anfang gemacht worden.
Das Buch ist im Verlag C. H. Beck erschienen, umfasst 223 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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