Die Autorin Gün Tank legt mit „Die Optimistinnen“ ihren ersten Roman vor. Sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter Nour, die mit anderen Frauen Anfang der 1970er Jahre als „Gastarbeiterin“ aus der Türkei nach Deutschland gekommen ist. Die Geschichte dieser Frauen wird nirgends erzählt. Wenn von „Gastarbeitern“ gesprochen wird, dann nur von Männern. Dass viele, häufig gut ausgebildete Frauen damals nach Deutschland kamen, um für ihre Familien in der Türkei Geld zu verdienen, ist bei uns nahezu unbekannt. Viele Frauen ließen Eltern, Ehemänner, Kinder in der Türkei zurück, um ihnen mit ihrer Arbeit in Deutschland ein besseres Leben zu verschaffen.
Gün Tank verknüpft die Geschichte ihrer Mutter mit der eigenen Geschichte. Sie ist das Kind eines deutschen Vaters, sie ist in Berlin aufgewachsen, hat Abitur gemacht und studiert. Dennoch lebt sie in zwei Welten: Ihren Alltag lebt sie in Deutschland, Ferien jedoch verbringt sie in der Türkei bei den Großeltern. Hier taucht sie ein in eine ganz andere Kultur mit großem familiären Zusammenhalt, in dem es Wärme, Kommunikation und viel Lebensweisheit gibt.
Gün Tank zeichnet hier ein anderes Bild vom Leben in der Türkei, offenbar auch, um mit den Stereotypen aufzuräumen, die sich bei uns in Deutschland über die Türkei entwickelt haben. Sie erlebt als Kind und Jugendliche in den späten 1980er und 1990er Jahren eine weltoffene Türkei, in der sich die Frauen sich an einen modernen Frauenbild orientieren.
Als ihre Mutter Nour mit 22 Jahren 1972 in ein Dorf in der bayrischen Oberpfalz kommt, um in einer Porzellanfabrik zu arbeiten, fühlt sie sich in vormoderne Zeiten versetzt, was die Rolle der Frauen anbetrifft. Die jungen Türkinnen kommen im schicken Minikleid, während die Dorfbewohnerinnen in lange, schwarze Röcke gehüllt sind. Die jungen Gastarbeiterinnen fallen entsprechend auf.
Auch die Wohn- und Arbeitsbedingungen stellen sich ganz anders dar, als sie es von Deutschland erwartet haben. Im Wohnheim müssen sie zu viert in einem kleinen Zimmer hausen, sanitäre Anlagen sind unzureichend und eigentlich eine Zumutung.
In der Fabrik werden die Frauen wie Menschen zweiter Klasse behandelt, gedemütigt und mit immer neuen Anforderungen an die Akkordarbeit konfrontiert.
Man will es gar nicht glauben, wenn man liest, dass eine Bitte bei der Abteilungsleitung um bessere Wohn- und Arbeitsbedingungen mit Drohungen und Kündigungen beantwortet wird.
Dennoch wagen es die Frauen aufzubegehren. In einer weiteren mutigen Aktion fordern sie Deutschkurse, fachliche Ausbildung und besseren Lohn. Mit dem Dorfpfarrer als Vermittler können sie schließlich ihre Forderungen durchsetzen. Das hat jedoch einen hohen Preis, die Verträge von Nour und ihren drei wichtigsten Mitstreiterinnen werden nicht verlängert. Aber sie sind jetzt so politisiert , das sie bereit sind, auch in Zukunft ihre Rechte durchzusetzen und Diskriminierung nicht mehr hinzunehmen.
Gün Tank gelingt es, diese Frauen in ihrer Kraft und ihrem Mut zu beschreiben. Sie sind viel unabhängiger und selbstständiger als einige ihrer deutschen Kolleginnen, die noch von ihren Männern in „Haushaltspflicht“ genommen werden können! Noch 1973 hat der deutsche Mann das Recht zu bestimmen, ob seine Frau berufstätig sein darf! Unglaublich. Wir wussten das damals als junge Frauen gar nicht, hielten es gar nicht für möglich, dass es so ein Gesetz gab. Die „Gastarbeiterinnen“, die alleine, ohne ihre Männer zum Arbeiten nach Deutschland gekommen waren, waren so erstaunt wie wir heute.
Nach einer Zwischenstation in Berlin findet Nour einen neuen Arbeitsplatz bei einem Autozulieferer in Neuss. Hier gehört Nour dann zu der Gruppe von „Gastarbeiterinnen“ aus der Türkei und anderen europäischen Ländern, die sich solidarisieren und mit Unterstützung des Betriebsrats Streiks durchsetzen. Sie erstreiten schließlich die Abschaffung der Leichtlohngruppen, die die Frauen diskriminierten, denn für die gleiche Arbeit wurden sie erheblich schlechter bezahlt als die Männer.
Nour wird ihr ganzes Arbeitsleben der Gewerkschaftsarbeit widmen. Ihre Tochter wächst in dieser Tradition auf. Schon als Kind ist sie bei den Ostermärschen mit dabei. Solidarisierung mit denen, die unterprivilegiert sind, ist die Grundhaltung, die sie von ihrer Mutter mitnimmt. Das in unser heutiges Bewusstsein zu bringen ist ein Anliegen von Gün Tank.
Ebenso wichtig ist ihr, einen Einblick in das Leben türkisch-stämmiger Menschen in Deutschland zu geben und auch hier mit Klischees aufzuräumen. Frauen wie Männer sind zunehmend gut gebildet und steigen hier in den akademischen Mittelstand auf, ohne dabei ihre türkischen Wurzeln zu verleugnen.
Das ist die Welt der Großeltern, die sie als weise, großzügig und tolerant erlebt. Istanbul ist der Ort, an dem sie in eine kontemplativere, mediterrane Lebenswelt eintauchen kann.
Die Jahre nach dem Militärputsch im Jahr 1983 werden dabei nicht verschwiegen. Wir erfahren, dass damals 650 000 Menschen festgenommen und gefoltert wurden, dass es Hunderte von Todesurteilen gegen Vertreter der kritischen Intelligenz gab.
Nur über das heutige Regime hören wir nichts. Vielleicht ist das zu riskant. Oder vielleicht schreibt Gün Tank darüber in einem nächsten Buch.
Insgesamt gelingt es Gün Tank mit ihrem Roman, uns mit einem anderen Blick auf die Situation der sogenannten „Arbeitsmigranten“ zu schauen. Wir haben uns angewöhnt, stolz auf unsere westlichen Werte zu verweisen, und scheuen uns dabei nicht, Menschen hier in höchst prekären Verhältnissen arbeiten zu lassen. Zumindest machen wir die Augen zu. Christlich ist das wahrlich nicht.
Gün Tanks Roman ist gleichzeitig ein Werben für einen besseren Austausch von Okzident und Orient. Recht hat sie! Warum wissen wir so wenig über die jüngere Geschichte der Menschen, die wir hier für den Aufbau unseres Wohlstandes brauchten? Warum wissen wir so wenig über die kulturellen Traditionen in den muslimischen Ländern?
Mich hat Gün Tank aufgerüttelt. Es geht mich an, ich möchte mehr darüber lesen und mehr erfahren.
In diesem Sinne ist „Die Optimistinnen“ ein wichtiges und lesenswertes Buch.
Der Roman ist im S. Fischer Verlag erschienen, hat 208 Seiten und kostet 22 Euro.
Elke Trost
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