Für das 5. Sinfoniekonzert hatte das Staatstheater Darmstadt den Perkussionskünstler – zu Deutsch: „Schlagzeuger“ – Alexej Gerassimez eingeladen. Der kam zwar im Jahr 1987 in Essen zur Welt, Vor- und Nachname lassen jedoch den berechtigten Schluss zu, dass er über einen russischen Migrationshintergrund verfügt. Das ist natürlich für seine Musik unerheblich, jedoch in diesen Zeiten nicht unbedingt für die Planer eines solchen Abends. Man könnte mit einiger Phantasie dahinter ein entsprechendes „Statement“ des Staatstheaters vermuten, doch konkret wird eine solche Vermutung erst mit dem Rest des Programms.
Nun benötigt ein solch umfangreiches und intensives Werk wie das Konzert für Solo-Schlagzeug und Orchester „Steidi“ des Finnischen Komponisten Kalevi Aho aus dem Jahr 2010 ein entsprechendes Gegengewicht, um das gesamte Programm ausgewogen zu gestalten. Und dieses Gegengewicht fanden die Planer in Dmitri Schostakowitschs 10. Sinfonie in e-Moll. Damit war auch die russische Herkunft des Solisten nicht mehr bloßer Zufall, sondern Teil eines entsprechend gestalteten Programms. Und mit Schostakowitsch stand ein Komponist auf dem Programm, der den größten Teil seines Lebens mit der sowjetischen Zensur zu kämpfen hatte. Stalin und seine künstlerischen Behörden verlangten leicht verständliche, jubelnde Musik, doch keine dissonante, zerrissene, wie sie die Moderne in Europa hervorgebracht hatte. Damit ist dieses Programm selbst im doppelten Sinne ein Abbild des Russlands der letzten einhundert Jahre. Hier ein versteckter Dissident in innerer Emigration, dort ein Nachfahre, der sich vollständig in die westliche Welt integriert hat, der jedoch zumindest mit seinem Namen auf den russischen Kulturkreis zurückverweist.
Gerassimez gilt – wie seine Brüder – als musikalisches Wunderkind, das bereits früh jedes Gerät zur Erzeugung von Rhythmus und Klang nutzte. In Kalevi Ahos Konzert konnte er an diesem Abend sein Können und seine Kreativität in vollem Umfang ausleben. Dazu waren vor dem Orchester des Staatstheaters umfangreiche Schlagzeuge aufgebaut: rechts und links je eine Pauke, die von Orchestermitgliedern bedient wurden, dazwischen ein Vibraphon, ein Xylophon, eine Gruppe von Trommeln sowie zwei Handtrommeln.
Das Konzert beginnt mit einem langsamen Solo auf einer Handtrommel, die sich Gerassimez vor den Leib gebunden hatte. Nach diesem fast schon lyrischen Auftakt setzte das Orchester mit homophonen Auf- und Abstrichen der Streicher ein, die einen fast schon drohenden Eindruck vermittelten. Volle Bläser dahinter unterlegten diese mit einem dichten, komplementären Klangteppich. Vor durchdringenden Streichermotiven wechselte Gerassimez an die Trommelgruppe, der er – mit unterschiedlichen Klöppeln – die unterschiedlichsten Klangfarben entlockte und dabei seine stupende Technik bewies. Das folgende Solo am Xylophon dagegen zeichnete sich eher durch nachdenkliche Töne aus, die von fast schon lyrischen Orchesterpassagen begleitet wurden. Nach einem Crescendo des Orchesters präsentierte er mit anderen Klöppeln härtere musikalische Klänge. Das folgende Vibraphon-Solo wiederum spielte er anfangs ganz ohne Orchesterbegleitung, dann mit wechselnder Begleitung der Klarinetten, Flöten und vor allem eines Saxophons. Nachdem er das Vibraphon sogar an den Rändern der Tonblätter mit Geigenbögen bearbeitet hatte, ging er den gesamten Weg der Instrumente wie bei einem Krebsgang zurück, bis das Konzert mit immer leiser werdenden Klängen der Handtrommel leise verklang.
Gerassimez zeigte bei dieser Parforce-Tour durch die verschiedenen Perkussionsinstrumente sowohl seine virtuose Technik als auch seine hohe musikalische Kreativität, die sich in vielfältigen musikalischen Ausdrucksvarianten auf Instrumenten dieser besonderen Art zeigte. Sein Spiel und die so bedachte wie exakte Begleitung durch das Orchester unter der Leitung des Gastdirigenten Valentin Uryupin – auch ein Russe! – ließen keine Längen aufkommen und hielten das Publikum über die gesamte Dauer des Konzerts in ihrem Bann. Mehr als kräftiger und anhaltender Beifall war die Folge, und Gerassimez ließ es sich nicht nehmen, nach einer launigen Ansprache über seine Instrumente auch noch eine fulminante Zugabe auf einer einzelnen Trommel zu präsentieren.
Schostakowitschs „Zehnte“ stand, wie bereits gesagt – unter dem Bann, einerseits den überschaubaren ästhetischen Maßstäben der sowjetischen Nomenklatura gerecht zu werden und andererseits sich und seine musikalischen wie politischen Anschauungen nicht zu verraten. Das ließ sich nur durch musikalische Ironie erreichen, die vordergründig die ideologischen Vorgaben befolgte, diese jedoch bei „richtiger“ Interpretation wieder unterlief. Die ersten Takte erinnern mit ihren tiefen Bassfiguren an Schuberts Achte in h-Moll, entfernen sich dann jedoch schnell von dieser flüchtigen Assoziation. Der von tiefen Streichern und Holzbläsern intonierte Trauermarsch lässt sich naiv wahlweise als lyrisch oder als Erinnerung an Kriegstote interpretieren, spiegelt jedoch bei genauerem Hinhören die Ausweglosigkeit des Lebens unter dem Sowjetsystem wider. Ein aufsteigendes „Majestoso“ wird dann entweder zur Ergebenheitsadresse oder zum Aufbegehren. Diese Klage über die Verhältnisse in der Sowjetunion der fünfziger Jahre (und davor) zieht sich durch mehrere langsame und dramatisch sich aufschwingende Phasen des außergewöhnlich langen ersten Satzes, bis dieser leise, fast resignierend verklingt.
Der zweite Satz beginnt mit schroffen, marschartigen Akkorden, die sich zu einem geradezu grotesken Tanz aufschwingen. Laut Kennern der damaligen Musikszene war dieser Satz als Porträt Stalins gemeint. Der dritte Satz weist anfangs getragene, eher resignierende Züge auf, bis er sich zu schroffen, ostinaten Akkorden aufschwingt. Dieser Aufruhr ist jedoch nicht von langer Dauer und geht in einen leise klagenden Ausklang über.
Der Finalsatz beginnt ähnlich dem ersten schwer und düster. Fagotte und Flöte klagen abwechselnd vor dem Hintergrund des Orchesters, wobei die einzelnen Instrumente die Situation des Individuums in der sowjetischen Gesellschaft widerspiegeln. Der pseudo-optimistische Schluss mag zwar die Funktionäre zufriedengestellt haben, doch das Tempo dieses Satzes verströmt keine Freude, sondern nur Verzweiflung. Die Musikerkollegen Schostakowitschs werden das auch so verstanden haben, und heute sorgt schon die Interpretation durch Orchester und Dirigent für eine wesensechte Wiedergabe diese Musik aus einer düsteren Zeit. Dabei lag die Assoziation heutiger Verhältnisse in Russland und Umgebung die ganze Zeit auf der Hand. Wenn man so will, hat Dirigent Uryupin mit seinem Dirigat dieser Sinfonie auch sein „Statement“ abgegeben.
Viel Beifall nach einem langen, anstrengenden aber auch bereichernden Musikabend.
Frank Raudszus
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