Pressekonferenzen zum Auftakt neuer Ausstellungen sind meist sorgsam abgewogene Mischungen aus inhaltlicher Information und – durchaus legitimer – Selbstvermarkung des jeweiligen Ausstellungshauses, wobei man aufgrund der gemischten Zielgruppe von Medienvertretern aller Art auf Weite und Tiefe der Beschreibung verzichtet. Doch in Sternstunden des Ausstellungwesens fällt diese Beschränkung und man wird unvermutet Teilnehmer eines so mitreißenden wie engagierten Vortrags über ein kulturelles Thema.
Das war der Fall bei der Pressekonferenz zu der Ausstellung „Maschinenraum der Götter. Wie unsere Zukunft erfunden wurde“ des Frankfurter Liebieg-Hauses. Nach den üblichen Eröffnungsworten von Direktor Demandt und Kulturfonds-Chefin Karin Wolff hielt Kurator Professor Dr. Vinzenz Brinkmann eine fulminante Eröffnungsrede, die jedoch nicht als universitäre Belehrung daherkam, sondern sich sozusagen aus tiefstem kulturhistorischem Herzen über das staunende Publikum ergoss. Brinkmann begann fast beiläufig, erzählte etwas über die Technik-Affinität der Antike und steigerte sich binnen Minuten in einen von Fakten und Ideen gesättigten Vortrag hinein, der in dieser Form auch als gedruckter Essay aller Ehren wert gewesen wäre.
Worum geht es? Der Westen hat – nicht zuletzt durch das Christentum – über Jahrhunderte eine Technik-Aversion entwickelt, obwohl – oder weil? – die modernen Technologien vordergründig auf seinen Kulturkreis zurückzuführen sind. Brinkmann erwähnte – nicht ohne maliziöses Lächeln – das auch heute noch in gehobenen akademischen Kreisen übliche Prahlen mit miserablen Schulnoten in Mathematik. in weiten bürgerlichen Kreisen gilt Kunst als intellektuell-edel und Technik eher als schlichtes Rohrebiegen oder – KI! – als apokalyptische Gefahr. Die Ausstellung „Maschinenraum der Götter“ geht zurück bis in die ägyptische Frühantike und zeigt, dass diese Welt durchaus nicht ein missverstandenes „Goethe-Arkadien“ mit Flöte spielenden Schäfern oder Gedichte rezitierenden Frauen war, sondern sich bereits intensiv und auch erfolgreich mit technischen Fragen beschäftigte.
Dabei kommt auch zwangsläufig das oben erwähnte Verhältnis von Kunst und Technik auf den Tisch. Die Antike kannte die moderne Kategorisierung noch nicht und trat der Welt offensichtlich wesentlich „naiver“ gegenüber. Man kann Kunst und Technik gleichermaßen als Spiel mit und Nachahmung der vorgefundenen Umwelt und ihren Phänomenen verstehen. Was bei diesem Spiel herauskommt, fällt dann irgendwann in die von der (westlichen) Nachwelt eingerichteten Denkschubladen. Eine Nachahmung des menschlichen Körpers aus Marmor und/oder Farbe wird dann zu Kunst und ein Aquädukt zur Technik.
Die antiken Beschäftigungen erscheinen heute oft in Mythen, so etwa der Sonnenwagen des Helios oder Flug und Absturz des Ikarus. Das lässt sich doppelt deuten: einerseits konnte eine in der Breite noch nicht gebildete Gesellschaft unerklärliche technische Erfindungen nur als das Wirken einer höheren Macht einordnen, andererseits verklärt die moderne westliche Sichtweise aus einer inhärenten Arroganz antike Technikaffinität gerne romantisierend zum Mythos.
Die Ausstellung des Liebieg-Hauses räumt mit solchen Vorurteilen auf und zeigt ganz nüchtern und gerade daher mit einem hohen Überraschungseffekt, was unsere Vorfahren vor mehreren tausend Jahren schon gewusst und gekonnt haben. So verfügten bereits die alten Ägypter über ein ausgefeiltes astronomisches System, das die Auf- und Untergänge aller Gestirne und deren jährlichen Höchststände mit hoher Genauigkeit tabellarisch festhielt. Wer hierin nur eine geradezu liturgische Verklärung der jeweiligen Gottheiten erkennen will, ignoriert die naturwissenschaftliche Korrektheit der Daten. Das gilt im kleineren Maßstab auch für die Materialforschung und Chemie oder auch für das Bauwesen, die damals schon erstaunliche Fortschritte zu verzeichnen hatten. Und den allen Sekundarschülern bekannten (und oft verhassten!) Satz des Pythagoras kannte man schon vor 4000 Jahren!
Die griechische Antike zeigt ähnliche Entwicklungen. Hier beschäftigte man sich bereits mit Robotern, Fluggeräten (nicht nur Ikarus!) und fortschrittlichen Waffen. Und das alles ohne mythischen Hintergrund und Einbeziehung der Götter. Spieltrieb und nüchterner Erfindungsdrang des Menschen reichten völlig aus. In dieser Zeit entstanden auch die ersten funktionierenden technischen Apparate, ob nun automatische Theaterbühnen oder animierte Skulpturen. Zu letzteren gehören die beiden fast gleichartigen Nachbildungen eines Knaben und eines Vogels, die Teil einer ganzen Kette von aufeinander folgenden, zusammen eine Art Film konstituierenden „Standbildern“ waren. Durch entsprechende optische Filter konnte man den Film zum Ablaufen bringen, wie es heute noch Kinder mit entsprechenden Grafiken an den Seitenrändern eines Buches machen.
Auch die Astronomie war damals schon weit entwickelt. So hat man vor der griechischen Insel Antikythera Reste eines hochkomplexen astronomischen Instruments gefunden, das sich nach aufwändiger Restauration bzw. Rekonstruktion ebenfalls in dieser Ausstellung wiederfindet. Und bereits damals stellten nicht wenige Denker das geozentrische System in Frage, was vor unserer Zeitrechnung höchstens heftige fachliche Diskurse auslöste. Erst die christliche Kirche erhob das geozentrische System zum Dogma und verfolgte alle Andersdenkenden.
Im antiken Rom gab es ein Turm-Restaurant, das sich in 24 Stunden mit den Sternbildern exakt einmal um die senkrechte Achse drehte und den Besuchern nicht nur einen sich stetig ändernden Blick über Rom, sondern auch automatische, aus dem Boden aufsteigende Service-Roboter bot.
Die Ausstellung zeigt auch die Bedeutung des Islam, der nach der (feindlichen) „Übernahme“ des Westens durch das Christentum das wissenschaftliche Denken der Antike rettete, in den eigenen Kulturraum übernahm und systematisch weiterentwickelte. Dass diesen Islam dann nach der in Europa als „Renaissance“ bekannten Epoche das gleiche Schicksal wie die Antike ereilte, ist eine andere Geschichte.
Ein weiterer Blick weit zurück gilt den Indern, die sich bereits vor den Griechen mit Astronomie und Mathematik beschäftigten und bereits über das heliozentrische System nachdachten. Und auch die europäische Renaissance und die darauf folgende Aufklärung kommen mit Namen wie Kopernikus, Kepler und Newton noch zu Wort und Geltung, doch eher als späte Nachfahren eines vom Vatikan bewusst auf einen mythischen Denker verkürzten Aristoteles.
Als abschließende Pointe der Ausstellung ist dann Jeff Koons Skulptur „Apollo Kithara“ zu sehen, die noch einmal die Vielschichtigkeit des Kunstbegriffs zum Ausdruck bringt und den Betrachter zwingt, sich über das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft Gedanken zu machen.
Die Ausstellung ist bis zum 23. September 2023 geöffnet. Näheres ist über die Webseite des Liebieg-Hauses zu erfahren.
Frank Raudszus
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