Thomas Mann war ein Meister der Epik, aber nicht unbedingt der Bühnenkunst. Doch die Theaterregisseure haben aus gutem Grund Romane als Bühnenvorlagen entdeckt, weil sie dabei nicht an vorgegebene Dialoge und Bühnenanweisungen gebunden sind. So kann man auch zeitgenössische Problemfelder auf die Bühnenbretter bringen, ohne sich zu sehr mit den Rechten der Urheber beschäftigen zu müssen.
In diesem Sinne hat auch das Staatstheater Darmstadt Thomas Manns Novelle „Mario und der Zauberer“ als Stoff für ein Theaterstück herangezogen. Außerdem bietet es genügend politische Ambivalenz, die man auf der Bühne nach Belieben ausdeuten kann.
Ein Ehepaar mit zwei Kindern besucht im Hochsommer des Jahre 1930 einen italienischen Badeort und sieht sich im frühfaschistischen Italien mit einer Reihe von Diskriminierungen konfrontiert. Die schönen Essensplätze auf der Veranda sind den – italienischen – Stammgästen vorbehalten, und der abklingende Husten der einen Tochter führt zu einer unfreiwilligen Umquartierung in die „Dependance“, weil eine adlige Zimmernachbarin sich daran stört. Da zieht man doch lieber gleich in eine nette, kleine Pension um. Am Strand fällt die aggressive Grundstimmung gegenüber Ausländern auf, kurz: es will keine Urlaubsstimmung aufkommen. Als ein Hypnotiseur namens Cipolla seinen Auftritt ankündigt, betteln die Töchter um einen Besuch dieses Auftritts, und die Eltern lassen sich breitschlagen.
Der Hypnotiseur zeigt von vornherein seine erstaunlich Macht über Menschen. Einen jungen Mann lässt er gegen dessen Willen die Zunge weit herausstrecken, und mit verschiedenen Zahlenkunststücken beeindruckt er das Publikum. Als er schließlich den Kellner Mario auf die Bühne bittet, ihm eine unglückliche Liebe zu einem Mädchen nachsagt und ihn dann noch mit hypnotischen Mitteln dazu zwingt, ihn als vermeintlich geliebtes Mädchen vor aller Augen zu küssen, fühlt sich dieser zutiefst gedemütigt und erschießt Cipolla beim Verlassen der Bühne.
Diese Konstellation lässt sich in der historischen Rückschau natürlich wunderbar als politische Kritik des italienischen Faschismus – und damit implizit auch am Nationalsozialismus – deuten. Cipollas hypnotische Fähigkeiten erinnern dann an Mussolinis und Hitlers Demagogie. Das ist nachvollziehbar und auch legitim, war jedoch so von Thomas Mann ursprünglich gar nicht gedacht. Ihm ging es eher um die Beeinflussbarkeit des Menschen durch andere und die Aufgabe der Selbstbestimmung. Allerdings hat er wohl später auch die implizite politische Aussage bestätigt.
Die Regisseurin Brigitte Dethier ist nicht der Versuchung erlegen, diese Novelle plakativ-politisch zu deuten. Sie wandert auf dem schmalen Grat zwischen einer „wundersamen Novelle“ à la E.T.A. Hoffmann und deren politischer Interpretation. Im Mittelpunkt steht anfangs das Elternpaar (Béla Milan Uhrlau und Edda Wiersch), wobei vor allem Uhrlau deutliche Züge Thomas Manns trägt. Das beginnt mit dem Schnurrbärtchen, der etwas steifen Körperhaltung und dem förmlichen Wesen, und setzt sich in einer kunstvollen Sprache anhand von Zitaten aus der Novelle, dem Notizheft für literarische Ideen und der fast tölpelhaften Ungeschicklichkeit in praktischen Dingen fort. Doch wird diese Figur deshalb nicht zum Abziehbild des Autors, sondern bleibt augenzwinkender Hinweis auf ihn. Bei der Ehefrau lässt sich dieser Hinweis wegen ihres geringeren Bekanntheitsgrades nicht entdecken. Edda Wiersch spielt eine elegante, bestens gekleidete Dame des gehobenen Bürgertums mit der typischen Frisur der dreißiger Jahre.
Die Handlung wird anfangs weitgehend durch dieses Paar in einer Mischung aus Erzählung und Spiel vorgetragen, später übernimmt dies streckenweise Stefan Schuster als Erzähler, der dann auch noch den Mario spielt. Hannah Elischer und Mia Lehrnickel, beide Studentinnen der Puppenkunst, spielen nicht nur die Töchter oder aggressiv-laute Strandnachbarn, sondern sind vor allem für Cipolla zuständig. Dieser kommt als dämonisch wirkender Puppenkopf mit angedeutetem schwarzen Anzug daher, und die beiden jungen Frauen – manchmal auch nur eine – steuern diese Puppe einschließlich Mundbewegungen ausgesprochen realitätsnah. Sie schlüpfen fast in diese lebensgroße Puppe hinein, obwohl sie beide als Puppenspielerinnen sichtbar bleiben. Doch die Bewegungen von Mund und Gliedmaßen der Puppe sind so lebensnah, dass man die entsprechenden Bewegungen der beiden Spielerinnen gar nicht mehr wahrnimmt, einschließlich ihrer Mundbewegungen. Hier spricht und geifert Cipolla und hypnotisiert seine Gegenüber und das Publikum.
Die Regie verzichtet konsequent auf jegliche äußeren Verweise auf das faschistische Italien und auf andere außertextliche Verweise. Eventuelle politische Deutungen lassen sich ausschließlich aus Thomas Manns Texten herleiten, und die sind natürlich aus der Rückschau ausreichend vorhanden. Im Jahr 1930 hätte das Publikum das wahrscheinlich nicht im gleichen Maße wahrgenommen.
Am Ende bleibt der Einbruch einer gefährlichen Macht in die behagliche Sommerfrische, die somit als bürgerliche Fassade einer gefährlichen und gefährdeten Welt entlarvt wird. Man kann sich nicht im Liegestuhl zurücklehnen und schöngeistige Gedanken im literarischen Notizbuch festhalten, wenn ringsum Manipulation und Einschränkungen der persönlichen Freiheit und der Selbstbestimmung drohen. Gar kein schlechtes Thema für die heutige Situation.
Das Ensemble spielt die Novelle auf genau diese Weise: als ein Stück über Sommer, Sonne und Strandvergnügen, hinter dessen vermeintlicher Harmlosigkeit sich jedoch eine drohende Gefahr aufbaut.
Das Publikum zeigte sich beeindruckt und spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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