„Croce e delizia“ – „Freud und Leid“, so lauten die ersten Worte der bewegendsten Arie in Guiseppe Verdis Oper „La Traviata“. Diese beiden Worte bringen Inhalt und Aussage dieses Werks in nur scheinbar trivialer Form auf den Punkt. Verdi hat hier Emotionen auf engstem theatralischen Raum und in kompromissloser Konsequenz auf den Punkt gebracht.
Der aktuelle kulturelle Zeitgeist, der es schon nahezu als anstößig empfindet, ein erfolgreiches Repertoirestück des (Musik-)Theaters – wenn überhaupt! – in Originalform ohne politische oder gesellschaftliche Aktualisierung auf die Bühne zu bringen, bietet auch hier viele Einfallstore für beißende Gesellschaftskritik, etwa die Ausgrenzung der Prostitution oder – gegensätzlich – ihre bewusste Außenseiterposition. Auch die großbürgerliche Neigung, sich solcher Dienste in herabwürdigender Form zu bedienen, böte sich an, und Philipp Kochheim und hat diese Chancen bei seiner Inszenierung im Jahr 2008 dankbar genutzt.
Karsten Wiegand, der Intendant des Staatsstheaters Darmstadt, ist dieser Versuchung jedoch nicht erlegen, sondern hat sich ganz auf den emotionalen Aspekt dieser Oper konzentriert. Das beginnt schon mit den Kostümen, die eher zeitlos als historisch wirken und nur einen schwachen Hauch des späten 19. Jahrhunderts verströmen. Es geht ihm nicht um Kurtisanen und deren Abhängigkeit von begüterten Freiern, sondern um eine Frau, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben geliebt fühlt und diese Liebe aus Gründen der Konvention opfern muss. Dass Alfredos Vater Giorgio sie um die Beendigung des Verhältnisses bittet, wirkt hier nicht spießig-verklemmt, sondern entspringt einer echten seelischen Notlage, denn Giorgio lebt in dieser Zeit mit ihren engen Moralvorstellungen und kann sich ihren Regeln nicht entziehen. So lässt Wiegand diesen Vater, gesungen von dem georgischen Bariton Aluda Todua, als Vater in größten seelischen Nöten und nicht als statusbesessenen Großbürger auftreten.
Ähnliches gilt für die Rolle der Violetta, gesungen von der Israelischen Sopranistin Hila Baggio, die in dieser Inszenierung weniger als Kurtisane denn als liebende und sich opfernde Frau auftritt. Sie steht im Mittelpunkt dieser Inszenierung, und die anderen Figuren gruppieren sich um sie herum. Das gilt vor allem für Alfredo, den in dieser Inszenierung der Tenor Andrés Agudelo singt. Er fällt dramaturgisch sogar etwas zu weit ab, was aber durchaus auch am Libretto liegt. Alfredo ist demnach ein naiver Jüngling, der reinen aber naiven Herzens liebt und die Verhältnisse nicht durchschaut. Letztlich verhalten sich sowohl sein Vater als auch Violetta paternalistisch ihm gegenüber, indem sie ihm weder die Entscheidung noch das Wissen um die Situation zumuten wollen und alles vermeintlich in seinem Sinne lösen wollen. Zwar geht es Giorgio – und ausgerechnet auch Violetta! – vordergründig um die Ehre seiner Tochter, aber seinen Sohn behandelt er dabei ebenso wie ein unselbständiges Kind. Das kommt in dieser Inszenierung deutlich zum Ausdruck, wobei sich die Frage stellt, ob das dramaturgisch vom Komponisten und/oder den heutigen Interpreten bewusst in einem kritischen Sinne geplant war oder sich einfach aus dem Handlungsablauf ergibt. Denn eine aktive Einbeziehung Alfredos in die Entscheidung über die weitere Beziehung hätte diesem einen wesentlich größeren Stellenwert eingeräumt, der Violettas zentrale Position deutlich geschwächt hätte. Am Ende trägt Alfredos einzige, fast erlösende emanzipatorische Tat tragisch-ironische Züge: der von ihm im Duell als vermeintlicher Rivale verletzte Baron Douphol spielte in Violettas Leben nur eine untergeordnete kommerzielle Rolle.
So bleibt „La Traviata“ auch in dieser Inszenierung ein Stück über eine glücklich-unglückliche Frau, die sich und ihr Glück dem vermeintlichen Glück einer anderen, ihr unbekannten Frau zum Opfer bringt. Man könnte diesen Aspekt auch interpretatorisch für eine Neudeutung nutzen, aber Wiegand enthält sich all solcher Spekulationen und bleibt auch in der Interpretation dem Text treu. Diese Grundsatzentscheidung hat eine ausgeprägte emotionale und dramatische Dichte zur Folge, weil nichts von dem zentralen Konflikt ablenkt. Sicher wäre dieser Konflikt noch schneidender zu Tage getreten, wenn Violetta am Ende nicht sterben würde. Doch im 19. Jahrhundert ließ man solche tragischen Figuren – siehe Mimi! – am Ende sterben, weil das einerseits die latente Gesellschaftskritik verblassen und andererseits die moralische Ambivalenz der Hauptperson in den Hintergrund treten ließ. Der Tod versteht sich als Absolution.
Das Bühnenbild unterstützt die Aussage dieser Inszenierung auf spielerisch ironische Weise. Eine Reihe von raumhohen, drehbaren Elementen tragen auf der einen Seite durch Spiegel und Dekor Zeichen großbürgerlicher Wohn- und Gesellschaftsräume, auf der anderen Seite jedoch barocke Gemälde. Hier hat Hieronymus Boschs Bild über das Paradies Pate gestalten. Die friedliche Landschaft mit Tieren aller Art und wundersamen Bauten ist hier auf die einzelnen Wände verteilt. Auf der zentralen Wand sieht man die Umrandungen von drei Personen, die man als Adam und Eva sowie Gottvater in ihrer Mitte deuten kann. Doch die Figuren sind aus dem Paradies herausgeschnitten und hinterlassen nur ihr Umrisse. Im Paradies leben weder Menschen noch ist ein Gott vorhanden – es ist nur eine tröstliche Vorstellung. Die Realität des menschlichen Lebens spiegelt sich in der Handlung der Oper wieder.
Der Chor ist ebenfalls eng in das Bühnengeschehen eingebunden, wobei die Chormitglieder in den letzten Szenen die verzweifelte Violetta durch ihre feixenden Hinterkopfmasken anglotzen und ihr ansonsten den Rücken zeigen. Ein in seiner theatralischen Wucht eindrucksvolles Bild. Sängerisch ist der Chor vor allem in den Gesellschaftsszenen vertreten, in denen er unter anderem das Rituelle der Gesellschaftstänze in verlangsamten Bewegungen zum Ausdruck bringt.
Die sängerischen Leistungen sind besonders hervorzuheben. In dieser Aufführung tragen die bereits genannten Gäste die Hauptlast. Vor allem Hila Baggio glänzt durch eine in allen Lagen sichere, klare und ausdrucksstarke Stimme, aber auch Aluda Todua und Andrés Agudelo zeigen starke stimmliche Präsenz. In den verbleibenden Rollen sind unter anderen Solgerd Isalv (Flora), David Pichlmaier (Baron Douphol) und Michael Pegher (Gastone) zu sehen und zu hören.
Das Orchester unter der Leitung von Daniel Cohen zeichnet die verschiedenen emotionalen Situationen mit viel Gespür für Details nach, ohne deswegen die sängerische Gestaltung auf der Bühne zu übertönen. Daniel Cohen räumt den Sängern und Sängerinnen durch Zurücknahme des Orchester viel Raum zur Gestaltung ihre jeweiligen Parts ein, zeigt jedoch auch orchestrale Präsenz, wo Meister Verdi sie einfordert.
Viel Beifall des weitgehend ausverkauften Hauses.
Frank Raudszus
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