Programmatische Musik – hier zur Vermeidung dreier „M“s so genannt – setzt ein besti8mmtes Narrativ in Musik um. Die Musik genügt sich dabei also nicht selbst, sondern dient einem externen Zweck. Musikalische Puristen rümpfen gerne die Nase über diese Gattung, die landläufig durch Smetanas „Moldau“ charakterisiert wird, doch man kann sie auch vorurteilslos als weiteres musikalisches Ausdrucksmittel betrachten.
Im 4. Sinfoniekonzert der Saison hat das Orchester des Staatstheaters Darmstadt unter der Leitung von GMD Daniel Cohen gerade diese Musikgattung in den Mittelpunkt gestellt, und zwar unter dem Motto „Illusionen und Träumereien“, wie Cohen bei einer spontanen Ansprache vom Dirigentenpult verkündete.
Am Anfang stand Paul Dukas´ Vertonung von Goethes „Zauberlehrling“, den man durchaus als satirisch-poetischen Kommentar des sich im besten Mannesalter befindenden „Weimarer Dichterfürsten“ auf jüngere Konkurrenten verstehen kann. Nach einem langsamen Vorspiel der Streicher setzen die Hörner mit kurzen Figuren ein, dann beginnen die Fagotte als Zauberbesen ihr den Zauberlehrling überforderndes Eigenleben. Das für den Zauberer stehende Leitmotiv dieses Stücks erscheint zum ersten Mal in den Hörnern , und ein gemessener, fast gravitätisch daher schreitender Rhythmus verleiht dem Ganzen die abgeklärte Würde des Meisters. Paul Dukas würzt das Stück mit humoristischer Klangvielfalt, die sich geradezu liebevoll in den einzelnen Instrumentengruppen entwickelt, und das Orchester präsentierte dieses programmatische Zauberkunststück mit exaktem Spiel und viel Gespür für den je nach Situation sich ändernden Ausdruck.
In der kurzen Pause stellte Daniel Cohen die drei kurzen Stücke des US-Amerikaners Elliott Carter (1908 – 2012) vor, die dieser unter dem Titel „Three Illusions for orchestra“ zusammengefasst hat. In „Micomicón“ berichtet Sancho Pansa seinem Herrn Don Quichotte von einer unbedingt zu befreienden afrikanischen Prinzessin, um ihn von Dulcinea abzulenken, und die Musik erzählt diese kleine Geschichte mit verspielt-sehnsüchtigen Figuren, die das Fernweh, den Traum und die Kraft eines Mythos entwickeln. Man spürt förmlich, wie der schlaue Diener seinen Herrn in dessen eigene Sehnsüchte einwickelt. Das darauf erklingende „Fons Juventatis“ („Die Quelle der Jugend“) erweckt akustische Bilder fließenden oder tropfenden Wassers zum Leben, ohne deshalb eine liedhafte Form in Anspruch zu nehmen. Alles ist musikalische Simulation ewige Jugend versprechenden bewegten Wassers. Dasa letzte und kürzeste Stück trägt den Titel „More´s Utopia“ und bezieht sich auf Thomas Morus´ Buch über eine zukünftige Welt der Glückseligkeit, die, wie wir heute wissen, niemals eingetreten ist. Die langsame, statisch entrückte Musik zeichnet sich durch intensiv-dichte Streicherklänge aus , lässt sich jedoch angesichts des eher handlungsarmen Narrativs nur begrenzt als programmatisch verstehen.
Dem Orchester bereiteten diese drei kleinen Stücke in ihrer klanglichen und auch metrischen Vielfalt viel Spaß, was man als Zuhörer aus der präzisen Umsetzung auch feiner klanglicher Details und metrischer Effekte herausspürte.
Als Hauptwerk des Abends erklang nach der Pause Hector Berlioz´ „Symphony Fantastique“, die, im Jahr 1830 entstanden, seine unglückliche Liebe zu der englischen Schauspielerin Harriet Smithson widerspiegelt. In gewisser Weise schlägt sich das Programmatische dieser Sinfonie schon in der Fünfsätzigkeit nieder, die dem damals üblichen viersätzigen Schema für Sinfonien widersprach. Hier dominieren die vielfältigen Emotionen eines Endzwanzigers angesichts einer unerreichbaren Geliebten. Der erste Satz trägt nicht umsonst die Bezeichnung „Rèveries, Passion“, laden doch die weit ausholenden, sehnsuchtsvollen Bögen zum Träumen ein. Daniel Cohen kostete diese emotionalen Traumbilder förmlich aus und achtete darauf, die Wirkung durch eine Drosselung der Tempi zu erhöhen. Dieser Satz zeigt die Träumereien eines jungen Mannes, der sich dabei auf keinen Fall durch äußere Einflüsse stören lassen will. Dann schwingt sich die Musik zu einer stürmischen, fast jubelnden und ekstatischen Bewegung auf, bevor sie dann wieder in Träumerei versinkt.
Im zweiten Satz, „Un Bal“ übertitelt, stellt sich Berlioz einen großen Ball vor, den er mit seiner Geliebten besucht. Bestechend der tänzerische, Lebensfreude versprühende Duktus, der dann wieder ins Träumerische entgleitet. Hier kann auch die Klarinette mit einem ausgedehnten Soloauftritt glänzen, bevor der Satz schwungvoll endet.
Der dritte Satz entführt den Komponisten und die Zuhörer in Anlehnung an Beethovens sechste Sinfonie auf das Land („Scène aux Champs“), wobei sofort heitere Gefühle erwachen. Die Oboe beschwört in einem ausgedehnten Solo die Weite und Stille der Natur, und die Streicher setzen dagegen die intensive Spannung der Emotionen, die eben nicht so entspannt wie die Natur sind. Immer wieder bäumt sich die Musik emotional auf, um sich dann wieder der Ruhe der Natur zu ergeben, und am Ende grollt der Donner der Pauken fern am Horizont, ein abziehendes Gewitter markierend und damit den resignierenden Verzicht auf die Liebe ankündigend.
Im vierten Satz spielt Berlioz dann mit dem Tod, da er die vermeintliche(?) Abweisung als Todesurteil empfindet. Der langsame Marsch lässt das Bild eines zum Schafott geführten Delinquenten aufsteigen, martialisch und drohend spielen dazu verschiedene Instrumente auf, und am Schluss fällt mit einem scharfen Tutti-Akkord das Fallbeil, bevor düstere Trommelwirble das Ende dieser Hinrichtung ankündigen. Hier überwiegen die dunklen Klangfarben, und man kann sich die zerstörte Seelenlandschaft des Komponisten gut vorstellen.
Der letzte Satz ist mit „Hexensabbat“ übertitelt und geprägt durch das wiederkehrende Motiv von „Dies irae, dies illa“. Burlesk-groteske, mal wild und mal tänzerisch aufschießende musikalische Figuren verleihen diesem Finalsatz einen jenseitig drohenden, ja: apokalyptischen Charakter nach dem Motto „Soll mit mir doch die Welt untergehen“. Nun, man weiß, dass Berlioz später doch noch die Gunst der Geliebten gewann, wenn auch nicht sehr lang. Vielleicht glich die kurze Ehe ja diesem „Hexensabbat“.
In dieser Sinfonie konnten Daniel Cohen und das Orchester alle Register ziehen, und sie taten es mit viel Freude an der Musik und ihrer Interpretation. Klarinetten, Oboen und Blechbläser konnten hier ihr Können zeigen, und sie taten es ausgiebig und gut. Daniel Cohen sorgte dafür, dass dieser musikalische Hexensabbat nie ausartete, sondern stets musikalisch kontrolliert ablief. Selbst in den grellsten Momenten blieben Transparenz und Präzision gewahrt, und in den viel schwierigeren langsamen Passagen ging nicht einmal die Spannung verloren. Der Klangrausch dieser Aufführung zeigte, dass programmatische Musik nicht nur spannungsloses musikalischen Nachbeten einer literarischen Vorlage sein muss, sondern durchaus hohe künstlerische Eigenständigkeit aufweisen kann.
Das Publikum bedankte sich mit kräftigem Beifall.
Frank Raudszus
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