Ich gebe es gleich zu Anfang zu: Ich habe den Roman „Blutbuch“ des jungen Schweizer Autors Kim de l’Horizon mit spitzen Fingern in die Hand genommen. Seine Selbstinszenierung bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises als queere, non-binäre Person, die sich aus Solidarisierung mit den Frauen im Iran den Kopf rasierte, wirkte auf mich ich-bezogen und auf Show-Effekt zielend. Wollte hier ein Autor den Preis instrumentalisieren, um die Probleme der Geschlechteridentität einer Minderheit zum großen Thema aller zu machen? Und das in einer Zeit, in der Krieg und Klimakrise unsere vordringlichsten Probleme sind! Wollte der Autor uns gutbürgerliche Leserinnen und Leser vorführen und uns zeigen, was „Wokeness“ bedeutet? Eigentlich hatte ich darauf nicht allzu große Lust. Bis ich anfing zu lesen.
Wir haben hier einen Autor, der im Sinne der Autofiktion mit dem Ich-Erzähler identisch ist und meisterhaft mit der Sprache umgehen kann. Er bewegt sich spielerisch in den unterschiedlichsten Sprachregistern: Da gibt es die Sprache der woken jungen Generation, in der es von Schlagwörtern, Floskeln und Anglizismen nur so wimmelt; das Schwyzerdütsch der Großmutter; das bemühte, aber oft fehlerhafte Hochdeutsch seiner Mutter; die brutale, sexualisierte Sprache der queeren Szene; seine eigene gehobene Bildungssprache. Immer geht es ihm darum, uns den Spiegel vorzuhalten, wenn wir uns gerade empören wollen über seine ungeniert drastische Darstellung eines homosexuellen Geschlechtsakts. Er zwingt uns, dabei zu bleiben, denn Gewalt zieht sich durch die Geschichte der Sexualität, meist als Gewalt an Frauen in heterosexuellen Beziehungen. Davor können und dürfen wir in der Tat nicht die Augen verschließen, nur weil es nicht „schön“ ist.
Kim de l’Horizon entfaltet, ausgehend von dem Fremdheitsgefühl, das er seit seiner Kindheit mit und in seinem Körper hat, einen weiten Blick auf die Geschlechterbeziehungen seit dem 14. Jahrhundert.
Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Frage nach den eigenen Wurzeln, d.h. die Frage, wie er so geworden ist, wie er ist. Als erstes fällt der Blick auf die Großmutter – auf Schwyzerdütsch die „Grossmeer“ – , die ihn mit großgezogen hat. So viele versäumte Fragen möchte er ihr stellen, die sie als hochdemente Heiminsassin nicht mehr beantworten kann. Er schreibt ihr Briefe, in denen er zusammenträgt, woran er sich erinnert, insbesondere aber das, worüber nie gesprochen wurde. Zu groß war der Druck der sogenannten Normalität, als dass man hätte über seine eigene non-binäre Identität hätte sprechen können, genauso wenig wie über den ungewöhnlichen Bartwuchs der Großmutter, über das ungewöhnliche Muttermal der Mutter, über das ominöse Verschwinden der ältesten Schwester der Großmutter.
In seinen Briefen nähert er sich ihrem Leben an, versucht ihre Härte als Schutzhülle gegen die Herausforderungen eines harten Lebens zu verstehen und dabei die eigene Entwicklung zu verstehen. Das Schweigen über alles, was abweicht, also auch über seine diffusen Gefühle gegenüber dem ihm von außen zugewiesenen eindeutig männlichem Geschlecht, macht ihn zum Suchenden.
Besonders beeindruckend ist, wie er sich als Erwachsener in die Sicht des Kindes auf die Erwachsenenwelt einfühlt.
„Das Kind“ spürt intuitiv, dass die Großmeer und die Meer – Schwyzerdütsch für Mutter – seinen Körper brauchen, um etwas von der Härte in ihnen selbst zu kanalisieren, Streicheln des Kindes mit der rauen Hand als Ersatz für nicht erfahrene Liebe und Zärtlichkeit.
Das Schreiben an die Großmutter, in dem seine Sensibilität und sein Erkenntnishunger sich ausdrücken, steht nur scheinbar im Gegensatz zu den brutalen punktuellen sexuellen Kontakten, die keinerlei Gefühl und keinerlei Beziehung zulassen. Es gibt für den Suchenden, Uneindeutigen in einer auf eindeutige Festlegung der Geschlechteridentitäten normierten Gesellschaft kein Modell für befriedigende Beziehungen, nur die Sehnsucht danach.
Im Nachspüren der eigenen Kindheit und in der Suche nach seinen Wurzeln kommt er ungewollt Mutter und Großmutter näher. Verstehen statt ursprünglich angestrebter Abgrenzung ist ein Prozess, der ihn tief in die Vergangenheit führt. Seine Mutter hat, neben ihrem anstrengendem Beruf als Friseurin, einen Familienstammbaum mütterlicherseits angelegt, den er zufällig findet. Der Stammbaum geht zurück bis ins 14. Jahrhundert und orientiert sich an den oben genannten Lebens- und Leidensgeschichten seiner weiblichen Vorfahren. Immer geht es um Gewalt, um Verfolgung der „weisen Frauen“ als Hexen, um Erniedrigung und Unterdrückung. Diese Frauen hatten noch nicht einmal die Möglichkeit, über erfahrenes Leid zu sprechen. Die junge, unverheiratete schwangere Schwester der Großmeer, das „Lieblingskind“ des Urgroßpeer kommt ins Gefängnis. Wer der Vater des Kindes war, lässt sich erahnen, wurde sie doch von ihrem Vater behütet wie sein Augapfel.
Im Sinne dieser Lebensgeschichten ist das Buch ein „Blutbuch“.
Aus der Härte gegenüber der eigenen Mutter wird tiefes Verständnis, auch Scham: Seine Geburt bedeutete, dass sie die auf dem zweiten Bildungsweg angestrebte Matur aufgeben musste. Er selbst aber hatte das Privileg zu studieren, jetzt zu schreiben und über das Schreiben zu reflektieren. Für ihn bedeutet das gleichzeitig Schluss mit dem eigenen Bildungshochmut und Hochachtung vor der Leistung der Mutter.
Ein Kapitel in diesem Selbstfindungsprozess ist dem Urgroßpeer und der Blutbuche in seinem kleinen Garten gewidmet. Kim de l’Horizon stößt bei seinen Nachforschungen zum Thema „Blutbuche“ auf die Bedeutung dieses Baumes als Repräsentationsobjekt auf adligen und später großbürgerlichen Anwesen im 18. Jahrhundert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts annektiert dann das Kleinbürgertum diesen Baum als Symbol des eignen gesellschaftlichen Aufstiegs.
Viel mehr allerdings irritiert ihn, mit welchen nationalistischen Gefühlen die Blutbuche und überhaupt die Parkkultur verbunden sind. Da gibt es den wissenschaftlichen Streit um die „Stammmutter“ der Blutbuche, die beanspruchen deutsche wie Schweizer Wissenschaftler für sich.
Sogar für Rassismus muss der arme Baum herhalten: „…eine Übermutter, die noch viel potenter wäre, wenn da nicht so viel unreines Gesindel an ihren Rockschößen hinge und ihr Genmaterial verunreinigte“, wie ein Thüringer Autor 1892 schreibt. Kim de l’Horizon verschlägt es den Atem, wie ein unschuldiger Baum für nationalistische und rassistische Ideologie missbraucht wird. Ganz abgesehen von dem Deutschen Wiepking, einem Parkideologen der Nazis, nach 1945 mit Professur für Park- und Gartenlehre …
Kim de l‘Horizon sieht seinen Urgroßpeer in der Tradition des Schweizer Nationalismus, der die Schweiz für das beste aller Länder hält. Damit hält er auch den eigenen Landsleuten den Spiegel vor.
Insgesamt ist das ein aufregendes Buch, das sich bewusst gegen alle Regeln des „schönen Schreibens“ wendet. Wie kann man in glatten, gut durchstrukturierten Sätzen schreiben, wenn im Schreibenden selbst alle Widersprüche kämpfen, wenn Assoziationen und Erinnerungsfetzen ihn treiben.
Besonders dem großen Goethe mit seiner „totalen Beherrschung von Wörtern, Klängen, Metren (…) Gesamtweltheit“ misstraut Kim de l’Horizon. Dass der Autor immer souverän über seinem Stoff zu stehen habe, dass er „Form und Inhalt in absoluter Harmonie zusammengedingsbumselt“, sieht er als „totalitäre Tendenz“. Die Sprache der Klassiker sei ihm immer wie Michelangelos Marmordavid vorgekommen: „Viel zu smooth, zu gross, zu männlich und viel zu weiß“.
Kim de l’Horizon lässt Sprache fließen, wie sie dem Inhalt entspricht. Und der ist nun einmal nicht immer schön. Er lässt sie „aus der Form“ fließen oder in „verschiedene Formen plumpsen“, so wie sie will.
Und das gelingt ihm meisterlich.
Eins muss ich noch zugeben: Beim ersten Lesen habe ich Kim de l’Horizons genderkorrekte Sprache boykottiert und trotzig „man“ statt sein „mensch“, „jemand“ statt sein „jemensch“ gelesen. Beim zweiten Lesen hat mich das gar nicht mehr interessiert. Genderkorrektes Schreiben und Sprechen ist nicht de l’Horizons Hauptthema, aber es ist konsequent und soll hier deshalb nicht erörtert werden.
Also liebe Leserin, lieber Leser: Lies dieses Buch, es wird eine gewinnbringende Lektüre sein!
Das Buch ist im Dumont Verlag erschienen, hat 336 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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