Der deutsche Titel des Romans „Klang der Erinnerung“ der britischen Autorin Jo Browning Wroe weckt die Erwartung von einer schönen, harmonischen Erzählung. Umso irritierter war ich, als ich den Titel „A Terrible Kindness“ des englischen Originals las. Wie konnten diese so unterschiedlichen Titel auf denselben Roman verweisen? Ich war gespannt.
Tatsächlich umspannt der Roman beides: zum einen das unfassbare Entsetzen angesichts des Unglücks im walisischen Dorf Aberfan im Jahre 1966, als bei einem Haldenrutsch eine Schule zerstört wurde und 115 Kinder ums Leben kamen; zum anderen die heilende Kraft der Musik und tiefer Freundschaft.
Die zentrale Figur des Romans ist der junge William Lavery. Der Roman beginnt mit der Abschlussfeier des Colleges für Einbalsamierung, auf der er als 19-jähriger für seine hervorragenden Leistungen geehrt wird, um sich dann unmittelbar als Freiwilliger für die Arbeit als Einbalsamierer in Aberfan zu melden. Die Aufgabe Williams und der anderen, älteren Einbalsamierer ist es, die kleinen Leichname für die Identifizierung durch die Eltern herzurichten. Diese Erfahrung wird ihn über viele Jahre traumatisieren. Er kann sich nicht vorstellen, jemals eigene Kinder zu haben, denn die toten Kinder erscheinen ihm immer wieder in furchtbaren Albträumen. Dennoch arbeitet er mit Hingabe im Bestattungsinstitut seines Onkels, der ihm die kunstvolle Herrichtung der Leichname ganz überlässt. Eine bewusste Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Aberfan lässt er jedoch nicht zu, sondern verdrängt alle aufkommende Erinnerung. Das belastet auch seine Ehe.
Als Lesende begleiten wir William bei seiner Arbeit und erfahren dabei zunächst in Andeutungen, dass es noch weitere Traumata in seinem Leben gibt. Der Vater, selbst auch Bestatter im Familienunternehmen, starb, als William acht Jahre alt war. Aus der gemeinsamen Trauer entwickelte sich eine symbiotische Beziehung zu seiner Mutter Evelyn, die aber irgendwann zerbrochen ist. Wir wissen lange nicht, was passiert ist, weil William auch hier keine Erinnerung zulässt.
Wohl aber erfahren wir, dass Williams Leben früh in eine ganz andere Richtung weist. Im Chor in seiner Heimatstadt wird der Chorleiter auf seine wunderbare Stimme aufmerksam. Er fördert William so, dass er schließlich als 10-jähriger in den Knabenchor in Cambridge aufgenommen wird. Das bedeutet Internatsleben und Trennung von der Mutter. Die innige Verbindung von Mutter und Sohn bleibt aber erhalten. Im Internat gibt es von Anfang an den Freund Martin, der ihn gegen Angriffe von Mitschülern schützt.
William wird schließlich zu dem überragenden Solosänger in dem Chor, er ist sogar seinem Freund Martin überlegen. Musik und Singen sind sein Leben, seine Mutter plant seine Zukunft ebenfalls in diese Richtung.
Aber es kommt anders. Etwas ist in Cambridge passiert, wir erfahren erst spät im Roman, was es ist. Es kommt zum Bruch mit der Mutter, zur Flucht des 13-jährigen aus Cambridge. Er zieht zu seinem Onkel und dessen Lebensgefährten in seinen Heimatort, macht einen normalen Schulabschluss und entscheidet sich gegen den ursprünglichen Wunsch der Mutter, in das Bestattungsunternehmen des Onkels einzusteigen.
Als mittlerweile 26-jähriger singt er nur noch bei der Arbeit mit den Toten, öffentlich kann er gar nicht mehr singen. Die Erinnerung an das „Miserere“ von Allegri, in dem er für das große Solo vorgesehen war, lässt er ebenso wenig zu wie die anderen traumatischen Erinnerungen. So kommt es schließlich zur Flucht aus der Ehe, weil er glaubt, sich seiner Frau nicht weiter zumuten zu können.
An dem Punkt ist William ein Gescheiterter, der Zuflucht bei seinem alten Freund Martin findet. Martin ist inzwischen wieder in Cambridge und verdient seinen Lebensunterhalt in einer Bibliothek. Sein Hauptanliegen aber ist die Arbeit mit Obdachlosen, für die er einen Chor gegründet hat. Für William ist die Wiederbegegnung mit der Musik schwer, aber er erkennt die heilende Kraft für die Männer, die alle Lebensbezüge verloren haben.
So weit hat der Roman eine große Eindringlichkeit, gerade weil er uns in Lebenswelten führt, die uns im Alltag doch eher unbekannt sind. Wie Traumatisierung und Verdrängung William zunehmend aus der Bahn werfen, ist psychologisch durchaus nachvollziehbar.
Was in Cambridge, was zwischen ihm und seiner Mutter vorgefallen ist, was zwischen ihr und dem Onkel vorgefallen ist, erfahren wir erst, als William die Erinnerung selbst zulässt. Mir schien das schon fast ein Trick, um die Spannung aufrecht zu erhalten, die ich nicht gebraucht hätte. Eher hätte ich mir eine differenziertere Darstellung der Mutter gewünscht, um die innerfamiliären Spannungen besser nachvollziehen zu können.
Leider hat die Autorin im letzten Teil dann offenbar das Bedürfnis nach Harmonie. Wie alte Konflikte gelöst werden, neue Erfahrungen die Traumata auflösen, das grenzt bisweilen an Kitsch. Das ist schade.
Dennoch habe ich das Buch mit Interesse gelesen, gerade auch wegen der Erfahrungen von Entsetzen einerseits und Erfüllung durch die Musik andererseits.
Das Buch ist in der deutschen Übersetzung von Claudia Feldmann im Insel Verlag erschienen. Es hat 413 Seiten und kostet 24 Euro.
Elke Trost
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