Wer heute Opern aus dem klassischen Repertoire, vor allem solche mit Ikonenstatus, ohne politische oder gesellschaftliche Aktualisierung einfach auf Basis des ursprünglichen Librettos inszenieren will, riskiert ein mitleidiges Lächeln der gesamten Branche ob einer solchen naiven Rückwärtsgewandtheit. Man muss sich schon etwas Besonderes einfallen lassen, um sich dieser Reaktion zu entziehen bzw. um sie zu kontern.
Der Münchner Intendant August Everding ging dieses Risiko im Jahr 1994 bewusst ein, als er ausgerechnet Mozarts Oper „Die Zauberflöte“, das weltweit meistgespielte Werk dieser Gattung, in historischer Form inszenierte. Dafür standen ihm ein Dutzend Zeichnungen der Bühnenbilder der Berliner Inszenierung aus dem Jahr 1816 sowie einige Darstellungen der Kostüme zur Verfügung. Die Bühnenbilder stammten von dem Architekten Karl Friedrich Schinkel, der damals viel zum Stadtbild Berlins beigetragen hatte.
Natürlich bestand nicht der Anspruch, diese Inszenierung „naturgetreu“ nachzuspielen, da man ansonsten keine Informationen hatte und auch nicht über die Spielweise informiert war. Doch der Versuch allein, diesem alten Original so nahe wie möglich zu kommen, war den Aufwand schon wert. Natürlich musste man die heb- und verschiebbaren Tempel, Säulen und Arkaden aus der zweidimensionalen Enge für eine entsprechende Wirkung auf den heutigen, wesentlich tieferen Bühnenraum anpassen und Räumlichkeit simulieren, doch das ließ sich mit zeichnerischen Mitteln lösen.
Auch die Musik musste sich dem historischen Diktat beugen. In den seitdem vergangenen zweihundert Jahren haben sich die Technik der Instrumente und die Ausbildung der Musiker dermaßen verfeinert, dass die heutigen Orchester einen wesentlich vielfältigeren und breiteren Klangraum beherrschen. Wollte man den Eindruck der damaligen Aufführung wiederbeleben, musste man auch hier zur historischen Aufführungspraxis übergehen, die glücklicherweise selbst seit längerer Zeit an vielen Orchestern gepflegt wird. Statt vieler Legati eine kürzere, klarere Strichführung bei den Streichern, die wiederum wesentlich höhere Transparenz bewirkt.
Opern wie Mozarts „Zauberflöte“ gehören heute zum hohen Kulturgut und werden eher als Kunstwerk zelebriert denn als Musikmärchen vorgespielt. Die Verständlichkeit der gesungenen Texte spielt eine untergeordnete Rolle, da einerseits das Publikum die Handlung mittlerweile zu Genüge kennt und man sich andererseits hauptsächlich für die künstlerische Umsetzung interessiert. Doch in vormedialen Zeiten stellten diese Singspiele auch ein Stück Welterklärung dar, und da war es wichtig, auch die Gesangstexte deutlich zu verstehen. Man ging ins Theater, um eine Geschichte zu hören oder sich an der Moral eines märchenhaften Singspiels zu ergötzen.
Die Staatsoper unter den Linden in Berlin hat Everdings Inszenierung, die bereits vor Jahren in Berlin lief, wieder reaktiviert und präsentiert sie dem Publikum jetzt in neuem Gewand. Schon die Ouvertüre erklingt ungewohnt, da das verschlankte Orchester unter der Leitung von Giedrė Šlekytė bewusst dem historischen Stil folgt, soweit man diesen kennt. Wenn sich dann der Vorhang hebt, sieht man eine Landschaft mit antiken Tempeln und rauen Felsen, die eine märchenhafte, fast naive Weltsicht ausstrahlt. Mit diesen antiken Versatzstücken spielt die Inszenierung, indem sie sie von Szene zu Szene neu arrangiert, andere Elemente hinzufügt und sie mit romantischen Landschaftsbildern des frühen 19. Jahrhunderts verbindet, die Weite und Fernweh auf die Bühne bringen.
Auch die wilden Tiere, die in der Oper gerne als Gefahren für Tamino und Papageno erwähnt werden, tauchen hier gleich in Gestalt eines kleinen Zoos auf, wobei die Nachbildungen von Nashorn, Löwe und Nilpferd so geschickt präsentiert werden, dass keinen Augenblick eine Art Peinlichkeit ob der Naivität aufkommt. Man kann sich gut vorstellen, dass man damit Anfang des 19. Jahrhundert noch zoologisches Wissen unters Volk gebracht hat.
Die Handlung wird auch wieder auf ihre ursprüngliche Aussage zurückgeführt, Sarastro (Grigory Shkarupa), den heutige Inszenierungen wegen seiner konservativen Ansichten entweder marginalisieren oder gar als patriarchalischen Chauvinisten darstellen, ist hier ein um Wahrhaftigkeit und Würde ringender Weiser, der auch seinen Feinden gegenüber großzügig sein kann. Die Inszenierung verzichtet jedoch bewusst darauf, in zu idealisieren. Auf der anderen Seite ist die Königin der Nacht (Caroline Wettergreen) zwar Sarastros feindlich gesinnte Gegenspielerin, doch auch sie handelt mehr aus gekränkter Eitelkeit als auch reiner Bosheit. Papageno (Adam Kutny) ist hier kein Klischee des verrückten Vogelhändlers, sondern ein Mensch, der versucht, durchs Leben zu kommen, ohne großen Schaden zu nehmen. Diese Figur bleibt durchaus humoristisch, wird aber nie platt witzig.
Peter Sonn, der kurz vorher noch in Darmstadt den Don Giovanni sang, muss wegen dessen erotischer Verfehlungen in die Unterwelt des Sarastro absteigen, um dort – wie eins Orpheus seine Eurydike – die gefangene Prinzessin Pamina (Victoria Randem) zu retten. Das macht er souverän und verströmt dabei sogar ein wenig die Aura des Don Giovanni anstatt die des oft als naiv-sehnsüchtig gespielten Tamino.
Die sängerischen Leistungen bewegen sich durchweg auf hohem Niveau. Grigory Shkarupas Bass erreicht mühelos alle Tiefen, die ihm die Partie des Sarastro abverlangt, und auf der anderen Seite bewegt sich Caroline Wettergreens Koloratursopran quirlig und wirbelnd in den höchsten Lagen. Victoria Randem überzeugt vor allem in den lyrischen Lagen, so, wenn sie bei Tamino und Papageno nur auf Schweigen stößt, und Adam Kutny verleiht seinem Papageno das richtige Maß an bauernschlauer Naivität.
Das Orchester nimmt sich bei allen Gesangspartien soweit zurück, dass alle Texte – sogar die berühmte Koloratur-Arie der Königin der Nacht – gut zu verstehen sind. Und dennoch kann diesen Orchester auch auftrumpfen, wenn es die Partitur erfordert und das Libretto erlaubt.
Diese Inszenierung trotzt auch mutig dem Zeitgeist der politischen Korrektheit und „Wokeness“. So darf sich Monostatos tatsächlich als „Mohr“ bezeichnen, und Sarastro verbreitet mit schöner Basslinie seine männliche Meinung über die dienende und vom Manne anzuleitende Frau. Keine „Buhs“ aus dem Publikum! Es ist halt ein Libretto aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, und das sollte man auch „ungereinigt“ durchspielen können.
Außerdem hat diese Inszenierung auch darauf verzichtet, der publikumskompatiblen Mode drastischer Kürzungen zu folgen. Hier werden alle Szenen um Sarastro und die Tempeldiener ausgespielt, und auch die drei Knaben und die drei Damen kommen ausgiebig zum Einsatz und zu Gehör. Das führt dann natürlich zu einer Gesamtdauer von etwa drei Stunden, aber die werden seltsamerweise nie zu lang.
Man folgt dieser Inszenierung gerne bis zur letzten Szene und ist fast ein wenig enttäuscht, wenn der Schlussakkord verklingt.
Viel Beifall eines ausverkauften Hauses.
Frank Raudszus
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