Eigentlich wollten wir an dieser Stelle über das Kammerkonzert mit Streichquartetten von Ravel, Berg und Beethoven berichten, doch in letzter Minute entschied sich der Rezensent für eine andere, parallel angesetzte musikalische Veranstaltung des Staatstheaters Darmstadt, nämlich „Unerhört! Pauline Viardot-Garcia“. Und das war auch gut so, und zwar nicht, weil der Streichquartett-Abend etwa die Erwartungen nicht erfüllt hätte – wir waren ja nicht da -. sondern weil die Alternativ-Veranstaltung wirklich den Besuch lohnte.
Beim Betreten der Kammerspiele warteten ein Flügel und zwei im Stil des 19. Jahrhunderts gekleidete Damen auf das Publikum, und die Pianistin ging wie in einer Probe einzelne Passagen durch. An der Bühnenrückwand zeigte eine wie hingeworfen drapierte Leinwand die Radierung eines Hausmusik-Abends aus eben dieser versunkenen Zeit.
Die Zeitreise für das Publikum begann dann mit einem Interview, dessen Fragen von einer Frauenstimme aus dem „Off“ kamen und sich an die in einem stilechten roten Sessel sich entspannende Pauline Viardot-Garcia richteten. Diese vielseitig begabte Musikerin des vorletzten Jahrhunderts ähnelte dabei frappierend der am Staatstheater Darmstadt tätigen Kammersängerin Katrin Gerstenberger, und Clara Schumann am Klavier hätte man glatt mit der Korrepetitorin Irina Skhirtladze am Staatstheater Darmstadt verwechseln können. Vielleicht sind ja die beiden Darmstädter Künstlerinnen direkte Nachfahren von Pauline und Clara – wer weiß.
Pauline Viardot-Garcia begann dann, die Fragen der Interviewerin zu ihrem Leben zu beantworten. Ihr früher Beginn – als Vierjährige – mit dem Klavierspielen; die musikalischen und kulturell sehr rührigen Eltern; die als Opernsängerin bekannte, dreizehn Jahre ältere Schwester Maria Malibran. Nach deren frühen Tod im Jahr 1832 – knapp fünfundzwanzig Jahre alt – musste Pauline den Klavierdeckel zuschlagen und ins Gesangsfach wechseln, was ihr ausnehmend gut gelang. Wahrscheinlich hatte aber die Mutter bereits das sängerische Talent der eigentlich für das Klavier vorgesehenen Tochter erkannt.
Neben einer erfolgreichen Karriere als Opernsängerin konnte Pauline aber auch auf eine erfolgreiche Arbeit als Komponistin zurückblicken, wie sie beim Interview in aller Bescheidenheit eingestand. Bereits mit sechzehn Jahren war sie als Sängerin so gut, dass sogar der Opernkomponist Giacomo Meyerbeer ihr eigene Rollen auf den Leib schrieb. Mit neunzehn Jahren heiratete Pauline dann den einundzwanzig Jahre älteren Kunstkritiker und Theaterdirektor Louis Viardot. Ein wahrer Glücksfall, denn er war nicht nur der Vater ihrer Kinder, die sie auch noch neben ihrer Karriere als Sängerin und Komponistin aufzog, sondern auch Agent, Berater und Förderer in jeder Hinsicht. Sie blieb mit ihm zusammen bis zu seinem Tod im Jahr 1883, in dem auch noch ihr platonischer Freund und Verehrer Iwan Turgenjew starb, der ihr nach eigenen Angaben schon früh verfallen war und sein Leben als Junggeselle und zurückhaltender „Hausfreund“ an ihrer Seite verbrachte.
Pauline Viardot-Garcia erzählte das alles mit einfacher Klarheit und Bescheidenheit, aber mit angeborenem Selbstbewusstsein. Sie hatte das Glück, in eine von der Natur mit vielen Talenten ausgestattete Familie hineingeboren zu werden und selbst diese Talente geerbt und mit erstaunlicher Energie genutzt zu haben. Sie war eine Kosmopolitin „avant la lettre“, wechselte sie ihren Wohnort doch je nach künstlerischer oder politischer Weltlage von Paris nach Moskau, Baden-Baden, London, New York und Mexiko City.
Bei dieser Zeitreise ins 19. Jahrhundert erfuhren die Besucher jedoch nicht nur viel über das Leben der außergewöhnlichen Künstlerin, sondern kamen auch in den Genuss, Lieder aus ihrer Feder und aus ihrer Kehle zu hören. So trug sie zuerst drei eigene Lieder nach Gedichten von Eduard Mörike vor, dann, nach weiteren biographischen Auskünften, von Alexander Puschkin und Afanassi Afanassjewitsch und später je ein italienisches und ein russisches Lied – von Turgenjew! – sowie eine spanische Habanera eines unbekannten Verfassers. Alle diese Gedichte hat Pauline selbst vertont und an diesem Abend mit einer so variantenreichen wie ausdrucksstarken Stimme zur Begleitung von Clara Schumann vorgetragen. Diese eindrucksvolle Stimme erinnerte die Zuhörer wie auch das Äußerliche an die allerdings erst im 20. Jahrhundert zur Welt gekommene Kammersängerin Katrin Gerstenberger.
Nachdem zum Schluss noch ein melancholisches Lied auf die Freundschaft mit dem Titel „Hai luli“ erklungen und die Zeitreise durch das plötzliche Verschwinden der historischen Personen beendet worden war, setzten sich die Dramaturgin und die unerwartet erschienene Kammersängerin Katrin Gestenberger und die Pianistin Irina Skhirtladze noch zu einer kleinen Gesprächsrunde über Pauline Viardot-Garcia unter Einbeziehung des Publikums zusammen.
Viel Beifall für einen gelungenen musikalischen Abend.
Frank Raudszus
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