Das Theaterkollektiv Gob Squad wurde in den neunziger Jahren in England mit dem Ziel einer performativen Theaterarbeit gegründet. Nicht die Bühnenumsetzung einer literarisch ausgearbeitete Vorlage steht im Vordergrunde, sondern die mehr oder minder spontane Umsetzung einer Idee, eine „Performance“ eben. Jetzt präsentiert die Gruppe ihre neueste Idee an der Berliner Volksbühne, die der langjährige Begleiter und Förderer René Pollesch leitet.
Eine übergroße Leinwand mit dem leer-runden Licht eines Projektors begrüßt die Zuschauer, und eine schmale Rampe führt von der Bühne mitten durch die Sitzreihen nach hinten. Dann erscheint ein junger Mann mit suchendem Blick und einer Decke im Arm. Schließlich spart auch die Volksbühne an der Heizung. Auf dem Bildschirm erscheint in Großaufnahme der Schauspieler Bastian Trost, noch am Schminktisch und offensichtlich überrascht vom frühen Eintreffen des Gastes. Mit freundlich vertröstenden Worten schickt er den Ankömmling die Rampe hinauf, wo dieser sich mit seiner Decke in einem dort bereitgestellten Bett etabliert.
Jetzt klärt sich langsam das Bild: dieser junge Mann hat knappe zwei Stunden seines Lebens und seiner Berliner Bleibe vertraglich dem Theaterkollektiv zur Verfügung gestellt, und dieses versucht nun, in einem Wettstreit zweier Kollektivmitglieder in seine Haut zu schlüpfen. Bewusst verzichtet das Kollektiv auf die Betonung der agierenden Personen, da diese ihre Rolle in jeder Aufführung vertauschen, ebenso wie die externen Rollenpartner und deren Wohnung.
In Echtzeit bewegen sich jetzt zwei Personen durch das abendliche Berlin, in androgyner Kleidung und bewusst eindeutige Geschlechterzuweisung vermeidend. Doch diese „Non-Binarität“ wirkt in diesem Fall weniger ideologisch forciert als eher zufällig.
Beiläufig hört man den jungen Mann im Theaterbett vom Verlust seines Hausschlüssels reden, und so schafft das suchende Hantieren der einen Person, deutlich als Frau zu erkennen, mit einem Schlüsselbund die Verbindung. Sie sucht nach einem passenden Schloss, eben nach einer Identität. Ihre Worte sind tastend, rätselnd und verweigern demonstrativ die Konsistenz eines ausgearbeiteten Bühnenskripts. Eher mit sich selbst redend denn mit dem hinter der ihr folgenden Kamera postierten Publikum, zieht sie durch den leichten Abendregen um die Häuser des Viertels bis zu einer Haustür mit passendem Schloss.
Parallel dazu flaniert ein androgyner junger Mann im flauschig blauen Mantel ebenfalls durch diese Vorortstraßen, sammelt einen Kronkorken auf und fragt vorbeikommende, ob des seltsamen Ansinnens verunsicherte junge Männer nach der passenden Flasche. Ebenfalls eine nach Identität suchende Odyssee.
Wie zu erwarten, landen beide Figuren in derselben Wohnung, wobei der junge Mann sich den Zugang mit leicht übergriffigem Nachdruck gegen die junge Frau verschafft. Nun sitzen sie sich gegenüber und taxieren sich gegenseitig ab. Ohne elaborierten Text, nur mit Metaphern, Ahnungen und Assoziationen gewürzte Bemerkungen. Gleichzeitig nehmen sie die Wohnung des im Theaterbett sitzenden Partners
optisch und haptisch in Besitz, drehen Fotos um, betasten Nippes und Kuscheltiere, besetzen in wahrstem Sinne des Wortes das Sofa. Ihr Dialog vor doppelter Kamera bleibt enigmatisch und verweigert jegliche konsistente oder gar konstruktive Aussage. Das Unsichere, nicht Festgelegte und kaum Identifizierbare bleibt Programm.
Das Ganze erinnert ein wenig an Grimms Märchen „Rotkäppchen“‚ in dem sich der Wolf die Identität der Großmutter aneignet, ohne dass diese Analogie explizit angesprochen wird. Erst wenn zum Schluss, nachdem der junge Mann seine Mitbewerberin mehr oder weniger sanft aus der Wohnung gedrängt und diese in Besitz genommen hat, Bastian Trost mit dichter Kunstbehaarung und Kinn und Wangen erst im Video und dann auf der Bühne erscheint, nimmt die Wolf-Metapher etwas deutlicher Gestalt an. Aber nur, um gleich wieder ins Ungefähre abzugleiten, denn dass Kontingente, Unfassbare der Identität soll nicht durch eine auflösende Erklärung unterminiert werden. Am Ende fällt der nicht vorhandene Vorhang und alle Fragen der Identität bleiben offen.
Beifall für eine so experimentelle wie – teilweise – verstörende Performance.
Frank Raudszus
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