Achtung Trigger! Wer sich dieses Stück ansehen möchte, kann keine „safe space“ erwarten, sondern muss sich auf emotionale Schocks einstellen. Sensible Naturen können das bereits am Titel „Shockheaded Peter“ erkennen. Auf den ersten Blick scheint dieser englische Titel unverständlich, handelt es sich doch um den guten alten „Struwwelpeter“, den auch heute noch – politisch nicht ganz so korrekte – Eltern ihren Kindern vorlesen. Doch die Bühnenversion wurde als „Junk Opera“ tatsächlich in England erarbeitet und dann wieder ins Deutsche rückübersetzt.
Den „Trigger“ setzt dann sicherheitshalber auch das Ensemble in seinem ersten Auftritt vor dem Vorhang. In einer Kostümierung, die an die abstrahierten – um nicht zu sagen: naiven – Illustrationen des Frankfurter Arztes Heinrich Hoffmann erinnert – schwarz glänzende, glatte Mäntel, hohe schwarze Zylinder und grell geschminkte Gesichter – warnt das Ensemble die Zuschauer im Sprachstil des Autors vor der Grausamkeit der kommenden Szenen. Und das zu Recht, denn wo Hoffmann seine traurigen Helden mit Mühe überleben lässt, kennt die Bühnenversion kein Erbarmen. Denn der schwarze englische Humor kennt keine pädagogische Zielsetzung wie Heinrich Hoffmann, sondern nur die Lust an der Zuspitzung.
Diese Lust spielen dann Karin Klein, Edda Wiersch und Juliane Schwabe sowie Hubert Schlemmer und Martin Vogel nach allen Regeln der Kunst aus. Um den Geschichten einen gewissen Rahmen zu verleihen, hat man noch das mit Pappgesichtern ausgestattete Elternpaar integriert, das nach vielen Versuchen endlich einen Jungen bekommt, der dem Abbild des Struwwelpeters auf dem bereits ikonisierten Umschlagbild des Buches sehr nahe kommt. Für den Charakter einer (Junk-)Oper ist eine vierköpfige Band mit dem passenden Namen „Böse Buben Band“ zuständig. Hans-Jürgen Osmers (p), Ralf Cetto (bs), Stephan Völker (sax, fl) und Philipp Strüber (dr) decken das gesamte Spektrum zwischen flottem Witz und hartem Beat ab und sorgen bei jeder Szene für eine passende musikalische Untermalung.
Hubert Schlemmer tritt mal als tattriger Greis, dem man wiederkehrend mit dem „Heim“ droht, mal als Stimmen der pappgesichtigen Eltern des Struwwelpeters auf und wechselt je nach Szene, wie auch die anderen Ensemble-Mitglieder, die Rollen nach Bedarf. Karin Klein ist großenteils für die Ansagen der schaurigen Geschichten um den bösen Friederich, das zündelnde Paulinchen oder den Suppenkasper zuständig, alles natürlich im deutschen Originalton des „Struwwelpeters“, der auch gerne mal einzeln oder im Chor gesungen wird. Geradezu mit Genuss wird die Rache des Schicksals oder der gequälten Kreaturen an den bösen Buben – nicht die an den Instrumenten! – ausgespielt. Der böse Friederich verliert durch den Hundebiss nicht nur sein Bein, sondern gleich sein Leben, und ähnlich ergeht es den drei Buben, die den „Mohren mobben“: allen dreien reißt der Nikolaus mit dem großen Kopf genüsslich die Köpfe ab. Der Hase verjagt den Jäger nicht – wie im Buch – mit Streifschüssen, sondern killt außer ihm nach ihrer Kaffeetasse – versehentlich – auch noch die Jägersfrau und leider auch sein eigenes Hasenkind. Und in guter(?) englischer „Schwarzer Humor“-Manier wird der herausschießende Blutstrahl mit einem langen roten Seidenband simuliert.
Die durchschlagende und den Erfolg des Buches garantierende Einfachheit der Geschichten und ihrer Darstellung schlägt sich auf der Bühne in Details nieder, wie Papp-Abbildungen von Kranken- und Leichenwagen, die nach jedem Todesfall an der Oberseite der simulierten Steinmauer entlangwandern, oder an den großen Pappmaché-Fliegen, denen der böse Friedrich gerne die Flügel ausreißt. Alles ist auf Drastik und Tempo angelegt, und dass funktioniert hervorragend. Die Kostüme und die Darstellung der Figuren verleihen der ganzen Szenerie einen grotesken, ja: geradezu surrealen Charme, der auch die letale Grausamkeit zur erträglichen Allegorie werden lässt. Einen gewissen Höhepunkt stellt dabei der Suppenkasper dar, der durch ein von Szene zu Szene dünneres, stets nacktes und anatomisch korrektes Hampelmännchen vor einem lebensechten Kopf hinter einer offenen Luke präsentiert wird. Ihm steht der lichterlohe Brand des Paulinchens in nichts nach, die nicht nur vor Pappflammen, sondern bei Ventilatorwind und rotem Licht ihr Leben unter grässlichen Schreien aushaucht. Kurz gesagt: blanke Anarchie!
Man mag kaum zugeben, dass man sich an diesem Abend köstlich amüsiert hat, kann es aber auch nicht verleugnen. Glücklicherweise ging es dem gesamten Publikum an diesem ausverkauften Abend nicht anders, und kein einziges „Buh“ – ob der politisch total inkorrekten Grausamkeiten an Kindern – störte den Schlussapplaus. Was soll man dazu sagen?
Frank Raudszus
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