Auf den ersten Blick schien das Programm dieses Klavierabends recht konventionell: Schubert und Beethoven halt – und etwas Beiwerk. Doch der zweite Blick zeigte, dass sich der Pianist Herbert Schuch ein ganz besonderes Programm ausgedacht hatte. Dass Beethovens Opus 111 als Höhepunkt am Ende stand, mag dabei den Rahmen des Konventionellen noch nicht sprengen, doch das restliche Programm war mehr als nur „eben ein solches“. Der zweite Programmteil bot etwas Neues: hier hatte Schuch einzelne Stücke aus Leos Janaceks Zyklus „Auf verwachsenen Pfaden“ mit Franz Schuberts „Moments Musicaux“ zu einer streng wechselnden Abfolge zusammengestellt, so die Verwandtschaft dieser beiden ungleichzeitigen Komponisten behauptend und deutend.
Doch am Anfang stand erst einmal Schubert alleine mit den vier Impromptus op. 90 . Und schon im ersten in c-Moll, übrigens Beethovens Lieblingstonart und auch den Abend beschließend, zeigte Schuch, dass Schubert tatsächlich Zeitgenosse des weit größer eingeschätzten Kollegen war. Schubert wird oft und gerne – und wohl nicht ganz zu Unrecht – als sehnsuchtsvoller Melancholiker und Frühromantiker interpretiert. Schuch jedoch zeigt schon im ersten Impromptu, dass Schubert wesentlich mehr Eigenschaften Beethovens aufweist als allgemein angenommen. Allein schon das lange Aushalten des – buchstäblich – ersten Akkords erzeugt eine hohe Spannung, die man eher von Beethoven zu kennen glaubt. Im weiteren Verlauf dieses Impromptus verzichtet Schuch weitgehend auf eine introvertierte Interpretation zugunsten einer zupackenden und kontrastreichen Sichtweise. Das zweite Impromptu kommt zwar federnd und locker, aber auch energisch und mit einem furiosen Schluss daher. Im dritten betont Schuch dann eher die nachdenkliche, etwas weltabscheifende Grundstimmung, um im vierten, nach ebenfalls weltfernem Beginn, die Kontraste und Emotionen wieder herauszuarbeiten.
Nach diesem kontrastreich-dynamischen Beginn mit einer eigenen Schubert-Sicht folgte die bereits erwähnte „Kooperation“ Janaceks mit Schubert unter der Anleitung von Herbert Schuch. Dabei hatte er drei „Moments Musicaux“ (4, 5 und 6) in die Stücke Nr. 1, 4, 5 und 6 aus Janaceks Zyklus eingebettet. Gleich dessen erstes Stück zeigte den zeitlichen Unterschied von neunzig Jahren zwischen den beiden Kompositionen. Janaceks Harmonien spiegeln bei aller Tonalität die fortgeschrittene Harmonik des frühen 20. Jahrhunderts wider, sind dabei im Grundtenor jedoch Schuberts Stücken sehr ähnlich. Die direkte Überleitung zwischen den abwechselnden Stücken ließen die gesamte Vorführung wie ein einziges Werk erscheinen, und tatsächlich tat sich an keiner Stelle ein deutlicher oder gar störender Bruch auf. Natürlich hatte Schuch die Folge so ausgewählt, dass die Übergänge organisch wirkten. Das erste und das letzte Janacek-Stück zeigten modernere Züge, während die beiden inneren sich auch harmonisch ein wenig mehr den jeweils benachbarten Schubert-Stücken annäherten. Dadurch wirkte das gesamte Gebilde ausgesprochen konsistent und in sich schlüssig. Man muss Schuchs Experiment als gelungen und ausgesprochen reizvoll bezeichnen, vom Lerneffekt ganz zu schweigen.
Nach der Pause kam eine „Erfrischung“ zu Gehör: Frederic Rzewskis „Winnsboro Cotton Mill Blues“ aus dem Jahre 1979. Dieses Stück beginnt mit rollenden und pochenden Bässen, die streckenweise zu Clustern mutieren, dann folgen trommelnde Akkorde und ostinate Figuren, die bisweilen sogar auf den noch folgenden Beethoven verweisen. Dann – nach einem „Break“, wie man im Jazz sagt – folgt eine melodische Passage mit erkennbaren Blues- und Jazz-Elementen, zwar frei interpretiert und erweitert, aber stellenweise sogar mit deutlich erkennbarem Blues-Schema. Wer die Blues- und Gospel-Landschaft ein wenig kennt, wird hier eine ganze Reihe bekannter Zitate herausgehört haben. Dabei verzichtet der Komponist – und auch der Solist – auf vordergründige Blues-Schwermut und lässt dem musikalischen Temperament freien Lauf. Daraus ergab sich dann eine musikalisches Tableau, das auf den Schluss- und Höhepunkt des Abends hinsteuerte.
Der begann dann fast wie das gesamte Konzert, nämlich in c-Moll und – neben Oktavsprüngen – mit einem markanten Anfangsakkord. Von diesem Augenblick an gestaltete Herbert Schuch diese letzte Klaviersonate Beethovens mit prägnantem Anschlag und einem ausgeprägten Gespür für die Gegensätze, ja: die Zerrissenheit dieses Werkes. Es ist jedoch nicht zerrissen in einem negativen Sinne, sondern Beethoven verzichtet auf die üblichen Elemente einer Sonate, als da sind eingängiges, geschlossenes Eingangsthema, Seitenthema, Durchführung und Reprise. Das heißt nicht, dass er die Sonatenform – trotz der unüblichen Zweisätzigkeit – völlig außer Acht lässt, aber er dehnt sie über alles bisher Gewohnte hinaus aus. Kurze melodische oder rhythmische Figuren werden vorgestellt, kehren in variierter Form wieder und wechseln sich mit anderen Figuren ab, die man zwar als Seitenthema verstehen kann, die aber meist nur in kompakter Form auftreten und mit abrupten Einsätzen oder Abbrüchen verbunden sind. So stellt der erste Satz ein hoch gespanntes Ensemble aus solchen Motiven dar, die in unterschiedlicher Intensität und Dynamik sich ineinander verschachteln und einander begleiten oder kontrastieren. Das erfordert vom Solisten ein Höchstmaß an technischem Können und Konzentration, welche beide bei Herbert Schuch in beeindruckendem Maß vorhanden sind. Er meißelte die Klangfiguren förmlich aus dem Flügel heraus, wechselt dann plötzlich zu (quasi-)lyrischen Einschüben, die wiederum gleich der nächsten Eruption weichen müssen. Dabei spiegeln diese Eruptionen nie einfache, wiedererkennbare Emotionen wie Freude, Sehnsucht oder Trauer wider, sondern führen, wie in allen späten Sonaten Beethovens, in einen eigenen emotionalen Kosmos, der im Zuhörer fremde aber ahnungsvolle Gefühle weckt. Diese Musik verunsichert zutiefst, eben weil sie die Welt gängiger Emotionen verlässt und völlig neue Räume öffnet, die in der Alltagswelt und -sprache verschlossen bleiben. Herbert Schuch gelang es, diese Räume hörbar und „sichtbar“ zu machen. Im zweiten Satz nahm er sich besonders der leisen Töne an, die hier auch nicht nur lieblich oder einfach „schön“ sind, sondern stets eine Hintergrundbedeutung transportieren, die sich sprachlich nicht fassen lässt. Schuch ließ sich bei diesen Passagen Zeit und die stillen Phasen durch kontrolliertes Tempo und intensiven Anschlag ins Bewusstsein der Zuhörer sinken. Das Publikum reagierte auf diese Intensität mit absoluter Stille; kein Husten und Stühlerücken waren zu hören. Und als der letzte Ton leise verklang, brauchten die Zuhörer mehrere Sekunden, um sich des Endes wirklich bewusst zu werden. Dann aber brach ein begeisterter Beifall aus.
Herbert Schuch, der gerne auch außermusikalisch mit dem Publikum kommuniziert und anfangs seine Mischung aus Janacek und Schubert erklärt hatte, kündigte dann noch eine Zugabe an und spielte ein weiteres „Moment Musical“ von Franz Schubert.
Frank Raudszus
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