Was ist Wahrheit? Mit dieser Frage setzen sich seit Platon und Sokrates Philosophen und andere Geisteswissenschaftler auseinander. Jonathan Rauch, US-amerikanischer Politologe und Journalist, geht in seinem Buch dieser uralten Frage unter dem Aspekt der zunehmenden Relativierung und Ablehnung einer allgemein verbindlichen Wahrheit nach. Dabei hat er natürlich die grassierende Sucht nach „alternativen“ oder „identitären“ Fakten, die Lügengespinste der Trolls und die Cancel Culture im Blick.
Als seriöser Wissenschaftler geht Rauch das Thema systematisch an und klärt erst einmal die Begriffe. Wie schon Descartes weiß er, dass es für die Menschen mit ihrem – subjektiven und begrenzten – Sinnesapparat und Verstand keine absolute Wahrheit geben kann, allen Religionen und Ideologien zum Trotz. Weit holt er aus bei Platon und Sokrates und landet schließlich bei Thomas Hobbes, John Locke und David Hume, die sich alle mit diesem Thema auf die eine oder andere Art beschäftigt haben. Seine Quintessenz aus dieser Rundschau läuft darauf hinaus, dass die Wahrheit nicht ein realistisch zu erreichendes Ziel ist, sondern ein Prozess, in dem die Menschheit in Gestalt eines „Trial and Error“-Verfahrens Annahmen trifft, sich von Irrtümern befreit und neue Annahmen trifft, die soweit wie möglich eine allgemein akzeptierte Sicht der Welt darstellen.
Detailliert geht Rauch auf die Verfassung der USA ein, die von Männern wie Jefferson, Washington und vor allem James Madison als ein kompliziertes System aus „checks and balances“ entworfen wurde. Dabei ging es Madison vor allem darum, dass die Regierung einerseits effektiv das Volk regieren konnte, aber auch gleichzeitig sich selbst kontrollierte. Die uns heute vertraute Gewaltenteilung war einer der wichtigsten Pfeiler dieser erfolgreichen Verfassung.
Ausgehend von diesem politischen Vorbild entwirft Rauch eine „Verfassung der Erkenntnis“, die auf ähnliche Weise sicherstellen soll, dass sich eine allgemein verbindliche und akzeptierte Sicht der Welt durchsetzt anstelle von partikularen, identitären oder religiösen Ideologien. Diese Verfassung basiert auf zwei Grundregeln: es gibt weder ein „letztes Wort“ noch irgendeine personale Autorität bei der Entscheidung zwischen „wahr“ und „falsch“. Jede Hypothese kann widerlegt werden, ja: nach Karl Popper gilt das Fallibilitätsgebot, das besagt, dass eine Annahme nur solange als Arbeitsgrundlage gilt, wie sie nicht widerlegt worden ist. Demnach gibt es keinen positiven Beweis einer Hypothese.
Das Streben nach Wahrheit sieht Rauch stets gefährdet durch die Voreingenommenheiten auch der Forschenden, als da sind Optimismus („wird schon gutgehen“), Verfügbarkeit (Überbewertung vorhandener Informationen), Vertrautheit (man glaubt den etablierten Argumenten), Asymmetrie (ich verstehe dich besser als du mich), höhere Gewichtung früher Informationen gegenüber späteren (die ersteren abändernden), das Framing (die Art der Darstellung von Informationen) und die Überschätzung der eigenen Kompetenz. Diese Voreingenommenheiten führen leicht zu einer Polarisierung, die sich schließlich weiter bis zur eigenen Isolation verstärken kann.
Nach Adam Smiths ökonomischem und John Lockes politischem System hat schließlich C.S. Peirce das epistemische System definiert, demzufolge Erkenntnis stets ein sozialer und weniger ein individueller Vorgang ist. Für Rauch bilden demnach soziale Netzwerke (nicht „social media“!) die Grundlage aller Erkenntnis. Dabei definiert er drei öffentliche Güter: die (möglichst objektive) Erkenntnis, die Freiheit (des Forschenden) und den Frieden (unter den Forschenden). Frei nach Madison kontrolliert dabei der Ehrgeiz den Ehrgeiz, denn es sollte unter Forschern stets das Ziel sein, die Erkenntnisse der Kollegen kritisch zu überprüfen. Entscheidend für die Ermittlung einer der „Wahrheit“ möglichst nahe kommenden Erkenntnis ist daher die Kunst des Kompromisses. Demnach besteht die Realität aus Propositionen, die von einem offenen sozialen Netzwerk validiert oder zumindest nicht widerlegt werden, und die liberale Wissenschaft sieht Rauch als empirisch und fallibilistisch sowie vor allem unabhängig von individuellen Personen.
Als Voraussetzungen für die „Verfassung der Erkenntnis“ definiert Rauch dann schließlich (1) die netzwerkweite Akzeptanz realitätsbasierter Regeln, (2) ein öffentliches, realitätsbasiertes Entscheidungssystem, (3) das öffentliche Vertrauen in realitätsbasierte Werte und (4) die allgemeine Achtung eben dieser „Verfassung der Erkenntnis“.
Alle diese Voraussetzungen sieht der Autor derzeit gefährdet durch die Etablierung eigener, vom jeweiligen Mainstream abgekoppelten „Wahrheitssysteme“ bis hin zu eigenen Parallelwelten. Die Gefahren sieht er in den im letzten Jahrzehnt aufgekommenen Desinformationstechnologien, die sich etwa in Donald Trumps „alternativen Fakten“ oder den Petersburger Troll-Fabriken mit ihren systematischen, durchaus sich auch gegenseitig widersprechenden Lügen niederschlagen. Dabei unterscheidet er bewusst zwischen „Plattformen“ wie Facebook oder Twitter und Gemeinschaften wie Wikipedia. Erstere haben sich lange Zeit nur als gewinnorientierte – „neutrale“ – Sammelstelle für Kommunikatien und letztlich Meinungsäußerungen aller Art verstanden, während letztere von Beginn an dem Ethos einer realitätsbasierten Vermittlung von Wissen folgten. Eingehend untersucht Rauch vor allem den Hintergrund der „Shitstorms“, die sich bei jedem mehr oder minder trivialen Verstoß gegen gerade gängige Moralkonventionen über den jeweiligen Verfasser bis hin zu sozialer Ächtung und beruflichem Mord ergeben. Er sieht dahinter den einfachen und kostenarmen Weg zur eigenen – moralischen – Statuserhöhung der jeweils sich empörenden Netzteilnehmer. Die sich daraus ergebende „Cancel Culture“, deren Auswüchse er in vielen erschreckenden Fallbeispielen aufzeigt, führt er auf unterschiedliche, aber dennoch sehr ähnliche Beweggründe zurück.
Die fundamentalistische Bewegung betrachtet alle Aussagen und Handlungen Dritter aus einer eindeutigen und nicht hinterfragbaren, geradezu (pseudo-)religiös daherkommenden Weltanschauung. Die egalitäre Variante fordert für alle Menschen möglichst weitgehende, wenn nicht absolute (materielle) Gleichheit und rekrutiert sich meist aus dem sozialistischen Kontext. Die humanitäre Version schließlich lässt sich als die perfideste deuten, da sie die Verletzung eines Individuums oder besser eines Gruppenmitglieds durch Äußerungen Dritter konstatiert, die im Gegensatz zu den beiden anderen Varianten nicht begründungsbedürftig ist. Das angebliche Leid eines durch Worte tief verletzten Menschen kann nur dieser verspüren und entzieht sich daher aller rationalen Hinterfragung. Rauch sieht hier die größte Gefahr für einen vernünftigen Erkenntnisfortschritt, da (fast) jede wissenschaftliche Hypothese oder Annahme sofort als eine Beleidigung bestimmter Gruppen aufgefasst werden kann. Entscheidend ist nicht die neutrale Bewertung dieser Annahme, sondern ausschließlich die Befindlichkeit der vermeintlich Betroffenen. Rauch zeigt an ausgewählten Beispielen, dass gerade die US-Universitäten unter diesen „Shitstorms“ im Namen angeblich persönlich beleidigter Mitbürger leiden und dass die jeweiligen Organisationen sich aus Angst vor Weiterungen nicht vor die jeweils angegriffenen Lehrkräfte stellen, sondern sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen bis hin zum Verlust der Arbeitsstelle.
Rauch betrachtet diese Entwicklung nicht als bedauerlich, sondern als geradezu skandalös und beschreibt das Verhalten vieler Firmen und Forschungseinrichtung als geradezu feige. Diese Einstufung ist wohl auch erforderlich, um die wissenschaftliche Welt aus ihrer Schockstarre zu lösen. Rauch fordert den Zusammenhalt und -schluss aller Wissenschaftler bis hin zu einem eindeutigen und couragierten Eintreten für die Rede- und Meinungsfreiheit. Und bei aller drohenden Gefahren durch die aggressiven Netzwerke der Aktivisten sieht er bereits Ansätze hin zur US-weiten Organisation des Widerstands gegen die moralischen Fundamentalisten der „Cancel Culture“. Dabei spricht er seinen wissenschaftlichen Kollegen nicht nur Mut zu, sondern beteiligt sich auch selber, nicht zuletzt durch das vorliegende Buch, aktiv am Kampf gegen eine autoritäre, Widerspruch nicht duldende Verbotsdiktatur mit moralischem Anstrich.
Das Buch sollte auch in europäischen, vor allem deutschen Universitäten Pflichtlektüre für Forschende, Lehrende und Lernende sein. Es ist im Hirzel-Verlag erschienen, umfasst 414 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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