Der Autor steigt gleich mit einem Kontrast in das Thema ein. Zuerst beschreibt er nachvollziehbar die Liebe eines kleinen Jungen – wohl er selbst – zu Karl May und dessen fiktiven Figuren Winnetou und Old Shatterhand, um dann ins heutige Berlin zu springen, wo eine Bürgermeister-Kandidatin der Grünen auf die Frage nach ihren Kinderträumen den „Indianerhäuptling“ nannte und darauf einen solchen Entrüstungssturm erntete, dass sie sich zu einer öffentlichen Entschuldigung gezwungen sah.
Balzer nimmt nicht von vornherein eine ideologische Stellung ein, sondern gesteht durchaus zu, dass man die kindliche „Indianer“-Liebe unschuldig und die Berliner Empörung überzogen finden kann. Doch gleich darauf räumt er ein, dass es eine ausbeuterische kulturelle Aneignung durchaus geben könne und auch gebe. Im Fall der „Indianer“ verweist er auf den sentimentalen Glauben des „weißen Westens“ an eine vermeintliche Authentizität indigener Völker, die gerade dieser Westen unterdrückt und ausgerottet habe. Von diesem speziellen Aneignungsthema kommt er dann schnell zur Musik , die offensichtlich eines seiner Spezialthemen ist. Hier erwähnt er die ersten repressiven Aneignungen im 19. Jahrhundert, wo auf Jahrmärkten in den USA die Schwarzen – einschließlich „Blackfacing“ – als gutmütig aber dumm dargestellt wurden. Eine spätere Aneignung in dem Film „The Jazz Singer“ aus dem frühen 20. Jahrhunderts schildert er ohne explizite Wertung, wohl, weil sich hier ein armer junger Jude sehnsüchtig in die Rolle eines schwarzen Sängers versetzt. Hier eignet sich ein Vertreter einer marginalisierten Minderheit die Kultur einer anderen Minderheit an, was nicht unbedingt in das Schema des repressiv aneignenden (weißen) Hegemons passt.
Weiter geht er zum frühen Jazz, wo sich weiße Musiker den Blues der ehemaligen Sklaven in durchaus kritisierbarer Form aneigneten, um schon bei Benny Goodman, dem „King of Swing“, unsicheres Terrain zu betreten. Zwar verdiente Goodman mit seinem Swing viel Geld, aber seine Musik hatte sich bereits weit von der Quelle des Blues entfernt und war stark beeinflusst durch westliche Musikstile. Elvis Presley, dessen „Rock´n Roll“ laut Balzer vom „Rhythm´n Blues“ der Schwarzen Bevölkerung stammt, führt Balzer als negatives Beispiel der Appropriation an, aber weniger aus musikästhetischen Gründen, sondern wegen des materiellen Gewinns. So basiert denn Balzers Vorwurf der ausbeuterischen Aneignung vorwiegend auf eben diesem Gewinn. Das hört sich zwar gut an und verfehlt sicher seine moralische Wirkung nicht, aber es wirkt denn doch ein wenig zu kurz gesprungen, wenn man kulturelle Aneignung nur danach beurteilt.
Balzer kommt dann auch auf den Hip-Hop zu sprechen, der in den siebziger Jahren von Schwarzen in den USA entwickelt wurde. Hier erwähnt er vor allem die Schwarze Band „Public Enemy“, die alle möglichen Stile und Musikstücke verarbeitete, abänderte und in die eigene Musik integrierte, also selbst Aneignung betrieb. Da diese jedoch als Protest gegen die weiße, falsch aneignende Musik gemeint war, bezeichnet Balzer sie als – berechtigte – „Counter Appropriation“. Solange vor allem „weiße“ Musik angeeignet wird, ist dies nachvollziehbar, wenn aber eine solche Band sich die Musik anderer – unterdrückter – Minderheiten, etwa der Karibik, aneignet, wird die Argumentation schwierig.
Balzer entwickelt dann eine Ethik der Aneignung, die darauf hinausläuft, dass es gute, weil „reflektierte“ Aneignung gibt, die sich ihrer selbst bewusst und sozialkritisch grundiert ist, und dass auf der anderen Seite die falsche Aneignung grassiert, der es nur um den materiellen Erfolg geht. Diese Definition ist durchaus nachvollziehbar, die Abbildung auf die Realität jedoch vage bis fragwürdig. So legt Balzer den Schwerpunkt auf die Aneignung fremder Kulturelemente durch eine hegemoniale weiß-westliche Kultur. Andere Kombinationen, etwa mit Beteiligung asiatischer oder arabischer Kulturen, werden überhaupt nicht betrachtet. Man könnte sich schon fragen, was es bedeutet, wenn Asiaten westliche Musik spielen oder sie gar in ihre Musik integrieren. Angesichts des bekannten Vorwurfs, sich als weiße Person mit afrikanischer Haarfrisur deren Kultur anzueignen, fragt man sich auch, was es bedeutet, wenn ein afrikanischer Fußball-Millionär aus der fußballerischen Oberschicht der Bundesliga sich die Haare blond färben lässt. Das mag banal klingen, bewegt sich jedoch auf demselben Niveau wie die entsprechenden Vorwürfe auf der anderen Seite.
Balzer erkennt richtig, dass die westlich-weiße Aneignung meist darin besteht, dass man in den indigenen oder vermeintlich „ursprünglichen“ Kulturen die Authentizität sucht, die man in der westlichen Moderne verloren zu haben glaubt. Eine solche sentimentale Aneignung ist sicherlich als „falsch“ zu interpretieren, auch wenn man sie nicht gleich als ausbeuterisch denunzieren muss. Andererseits kommt Balzer selbst zu dem Schluss, dass alle Kulturen aus Aneignungen fremder Kulturen bestehen, ja: dass es eine homogene, „reine“ Kultur im Sinne des „Völkischen“ gar nicht gibt und auch nicht geben sollte. In gewissem Sinne widerspricht er damit seiner eigenen Einteilung in „gute“ und „schlechte“ Appropriation, denn wenn jegliche Kultur sich aus Aneignungen entwickelt, gibt es im Grunde genommen keine wie immer geartete ethische Wertung. Es bleibt dann letztlich bei Balzers vordergründiger Wertung der materiellen Vorteile, die sich geschäftstüchtige westlich-weiße Personen oder Organisationen auf der Basis vermeintlich authentischer fremder Kulturen verschaffen. Ob das für eine grundlegende ethische Bewertung kultureller Appropriation reicht, bliebe noch zu klären, vor allem, wenn auch die Schwarze „Counter Appropriation“ wirtschaftlichen Gewinn einfahren sollte.
Das Buch ist im Verlag Matthes & Seitz erschienen, umfasst 87 Seiten und kostet 10 Euro.
Frank Raudszus
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