Des Öfteren haben wir hier bereits die zunehmende Tendenz zu und die Probleme von Bühnenfassungen bekannter Romane thematisiert. Nahezu bei jeder dieser Umdeutungen für die Bühne haben sich Darstellungsprobleme ergeben, die entweder zu Lasten der epischen Vielschichtigkeit – ein Qualitätsmerkmal guter Romane! – oder gar der Werktreue im Sinne der Handlung gingen. Und doch setzen die Theater und ihre Regisseure immer wieder auf dieses Theater-Pferd.
In Darmstadt ist jetzt die neueste Version zu sehen: Max Frischs „Homo Faber“. Um die Schwierigkeiten der Inszenierung zu zeigen, ist es erforderlich, kurz auf den Roman einzugehen. Wer ihn nicht kennt, wird nur das grobe Raster der Handlung verstehen, nicht jedoch die durchaus problematische Aussage.
Der schweizerische Ingenieur Walter Faber sieht die Welt aus einer rationalen Perspektive. Alle Ereignisse, ob Erfolge oder Unglücksfälle, unterliegen für ihn einer gewissen Wahrscheinlichkeit, mit der man im Alltag arbeiten kann. Dabei ist auch dem Rationalisten klar, dass der unglückselige Zufall für die Betroffenen katastrophal oder gar letal ausgehen kann. Doch Frisch will diese Grundsatzfragen nicht einer literarischen Diskussion unterziehen – etwa wie bei Thomas Manns Settembrini und Naphta – sondern er setzt Faber als Rationalisten.
Auf einem Flug nach Venezuela lernt Faber nicht nur den Bruder eines Freundes aus alten Zeiten kennen, sondern erlebt auch eine Notlandung des Flugzeugs in der Wüste. Zufall eins und zwei. Spontan beschließt er, zusammen mit seinem neuen Bekannten dessen Bruder auf seiner Plantage im guatemaltekischen Urwald zu suchen, nur um diesen erhängt auf seiner Plantage vorzufinden. Das ist zwar kein Zufall, soll jedoch als Beispiel für die Erschütterung von Fabers rationalem Weltbild dienen, obwohl der Selbstmord nicht erklärt und auch nicht weiter thematisiert wird. Er wirkt vielmehr wie ein „deus ex machina“ bezüglich eben dieser Erschütterung. Immerhin weckt dieser Tod alte Erinnerungen an seine Freundin Hanna, die sich trotz ihrer Schwangerschaft von ihm getrennt und eben den späteren Selbstmörder geheiratet hat.
Auf der Rückfahrt per Schiff nach Europa lernt Faber eine junge Frau kennen und verliebt sich vergeblich ihn sie. Doch in Paris trifft er sie wieder, und sie gehen eine Beziehung ein, die sie anschließend über Italien nach Griechenland führt, wo die Mutter seiner Freundin wohnt. Als er erfährt, dass diese seine alte Jugendliebe ist, verdrängt er die aufsteigende Ahnung einer inzestuösen Beziehung. Dann wird seine Freundin bei einer Badepause von einer Schlange gestochen und fällt rückwärts vor dem herannahenden Faber auf einen Felsen, der schließlich ihren Tod zur Folge hat. Das könnte man als Zufall drei bezeichnen, doch Frisch hat mehr damit im Sinne. Nicht umsonst siedelt er den abschließenden Höhepunkt in Griechenland an, denn dort locken die mythischen Zitate: zum einen ein gespiegeltes Ödipus-Drama über ungewollten Inzest, zum anderen der Orpheus-Mythos, in dem der Protagonist seine Geliebte durch das Anschauen zu Tode bringt. Doch werden beide Mythen nur – etwas zu deutlich – zitiert und nicht weiter ausgeführt.
Dass Faber am Ende seine alte Jugendliebe heiraten und damit sowohl seine Abneigung gegen zu enge Bindungen ablegen und etwas wieder gut machen möchte, nimmt man ihm zwar ab, doch es bleibt offen, ob diese Absicht auf Gegenliebe stößt oder nicht. Außerdem erkrankt er am Ende an Krebs und der Roman endet am Tage der Operation, deren Ausgang ungewiss bleibt.
Max Frisch hat in diesen Roman sehr viel, vielleicht zu viel, hineingepackt: den nicht ausdiskutierten Gegensatz gegen Rationalismus und – ja, was? – Irrationalismus? Zitate der griechischen Tragödie und eine vom Zufall ins Tragische verschobene Liebesgeschichte. Am Ende des Romans legt man das Buch zur Seite und weiß nicht, was der Autor eigentlich aussagen wollte.
Vor eben diesem Problem steht die Inszenierung von Jakob Weiss, der auch die Bühnenfassung erarbeitet hat, in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt. Es geht darum, zwar eine vordergründige Geschichte, aber auch ein Mäander an Reflexionen und Assoziationen zu verarbeiten, die nicht unbedingt ein konsistentes Ganzes ergeben, aber typisch für viele Romane sind. Da diese gedanklichen Prozesse sich in einer Person abspielen, eignen sie sich weniger für eine theatralische Umsetzung. So steht denn Matthias Znidarec als Faber in der ersten Hälfte meist vor dem antik anmutenden (!) Bühnenbild und trägt den Roman vor. Dabei unterstützt ihn das Ensemble, indem es kurz die Personen seiner Erinnerungen schemenhaft auftreten lässt, doch zumeist ohne oder mit wenig Stichwort-Text.
Da eigentliche Handlungselemente vor allem in der ersten Hälfte fehlen und die Erinnerungen des Protagonisten dominieren, gibt es auch keine Anlässe für Bühnenbewegungen. So steht Znidarec alias Faber überwiegend mittig vor dem Publikum und memoriert Walter Fabers bzw. Max Frischs Gedankengänge, wobei sich zwangsläufig die Handlungsebene und die Meta-Ebene des Autors stark überschneiden. Nur die kurzen Einschübe mit Fabers Geliebten Ivy (Nora Solcher) sorgen für kurze Abwechslung.
Erst im zweiten Teil, wenn die Tochter in die Handlung eintritt und diese damit plötzlich Aktualitätsdruck entwickelt, wird auch das Geschehen auf der Bühne lebendiger. Jetzt ergeben sich echte Dialoge zwischen Faber und seiner – noch nicht als solche erkannten – Tochter Elisabeth. Mit Edda Wiersch erscheint eine Figur auf Augenhöhe mit dem Hauptdarsteller. Von der Rückschau in die Vergangenheit wechselt das Geschehen in die hautnahe Gegenwart und legt die offene Flanke des Rationalisten Faber offen, was dem Spiel auf der Bühne gut tut.
Zum Ende hin tun dann die inzestuöse Dramatik und der griechisch-mythische Schlangenbiss ihr Übriges. Jetzt kommt mit der Jugendfreundin Hanna (Karin Klein) eine weitere Akteurin aus der Handlungszeit ins Spiel, die das bisherige Duett aus Vater und Tochter in das neue, kritischere Duett aus Vater und Mutter verwandelt und neue Töne in die Dialoge bringt. Doch die emotionale Dichte der Schlussphase ist eindeutig auf die tragische Situation des Verlustes der gemeinsamen Tochter zurückzuführen, nicht jedoch etwa auf eine stringente Auseinandersetzung mit Rationalität und Emotionalität. Zwar betont Faber alias Znidarec des Öfteren seine rationale Weltsicht, das ist jedoch nicht gleichzusetzen mit einer bühnengerechten Abhandlung dieses Themas.
Matthias Znidarec setzt zwar sein ganzes schauspielerisches Können ein, um die Person Walter Faber in all ihren Facetten lebendig werden zu lassen, doch die statische Anlage der Bühnenfassung erschwert seine Bemühungen und führt streckenweise zu einer Art szenischer Lesung des Romans. Edda Wiersch als Tochter Elisabeth sorgt mit ihrem variablen Spiel für eine deutliche Belebung und Akzentuierung und verleiht dadurch dem Stück nach der Anfangsphase deutlich mehr Dichte. Karin Klein, die erst zur Schlussphase als Mutter und Jugendliebe Hanna auftritt, erliegt nicht der Versuchung, ihren späten Auftritt durch Überspielen aufzuwerten, sondern glänzt gerade durch ihre Zurückhaltung, die Contenance und Großzügigkeit einer einmal enttäuschten Frau sowie durch eine nur mit Mühe zurückgehaltene und gerade dadurch überzeugende Trauer nach Elisabeths Tod.
In den Nebenrollen spielt Nora Solcher eine viel souveränere und emanzipiertere Ivy als nach Fabers Worten zu erwarten. Daniel Scholz und Jörg Zirnstein sind mit ihren verschiedenen Nebenrollen unterfordert, füllen sie jedoch mit einer gewissen Portion von Selbstironie glaubwürdig aus.
Frank Raudszus
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