Zum Ende eines langen und heißen Sommers ging das diesjährige Rheingau Musik Festival noch einmal „in die Vollen“. In der neu errichteten mobilen Konzerthalle im Hof von Schloss Johannesberg präsentierte die Junge Deutsche Philharmonie – ein Ensemble aus jungen Leuten bis 28 – unter der Leitung des Dirigenten Frank Strobel eine so vielseitige wie überraschende musikalische Reise in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, die man auch die „wilden Zwanziger“ nennt.
Die nahezu vierstündige Aufführung erforderte nicht nur – wie bei Wagner! – zwei Pausen, sondern auch zusätzliche Auflockerung. Diese erfolgte einerseits durch die noch junge Liedsängerin Dimi Rompos und andererseits durch das aus Lucy Flournoy und Manfred Callsen bestehende Entertainer-Duo, das durch etwas Slapstick und skurrile Einfälle den Abend auch außermusikalisch gestaltete, ohne jedoch dabei den Fluss der Musik zu stören.
Letztere stand denn auch, wie es sich für ein Musik-Festival gehört, im Mittelpunkt des Abends, und zwar in Form ausgefeilter sinfonischer Musik, die alte Stücke völlig neu intonierte und auch eher unbekannte aber originelle Musik präsentierte.
Der erste Teil war dem Brecht-Vertoner Kurt Weill sowie seinen Zeitgenossen Paul Dessau und Hanns Eisler gewidmet. Aus Brechts „Dreigroschenoper“ trug Dimi Rompos allein vier Songs vor – „Seeräuber-Jenny“, „Mackie Messer“, „Das Lied von der Unzulänglichkeit…“ sowie den „Barbara-Song“ -, und dem fügte sie noch je ein Lied von Dessau und Eisler hinzu. Bei diesen Songs, ob nun weltbekannt oder nicht, fiel besonders die Gewichtung auf: trotz der Sängerin stand das Orchester im Mittelpunkt. Die Stücke waren völlig neu für ein größeres Orchester arrangiert, wodurch der für Brechts Stücke bekannte Charakter des Bänkelgesangs entfiel. Dimi Rompos trug die Texte eher wie anspruchsvolle Popmusik vor, in denen der gesangliche Auftritt auf Kosten der (körper)sprachliche Interpretation dominierte. Die dichte Haltung des Mikrofons am Mund minderte außerdem die Verständlichkeit, doch hier wurden nicht Brechts Stücke verhandelt, sondern raffinierte Orchester-Arrangements vorgeführt. Da war stets eine gekonnte, transparente Vielstimmigkeit am Werk, ohne dass der Klang deshalb überladen wirkte. Kein Brahms sondern Brecht musikalisch: klare und kurze, bisweilen abrupte Figuren, die trocken-moderne Harmonik der zwanziger Jahre, vom Jazz abgeschaut und intelligent vermengt mit der frühmodernen E-Musik. Puristische Brecht-Liebhaber mögen mit dieser Interpretation gehadert, die Freunde moderner (Jazz-)Musik aber ihre Freude gehabt haben.
Der zweite Teil bot dann eine wahre Rarität. Auf einer Leinwand im Hintergrund lief der Stummfilm „Der Schatz“ aus dem Jahr 1922. Vorab hatte Manfred Callsen noch eine vernichtende zeitgenössische Tirade über den gerade aufkommenden Tonfilm zitiert. Da Stummfilme damals durchaus nicht tonlos waren, sondern musikalisch wahlweise von einem Klavier (in kleinen Kinos) oder gar einem Orchester begleitet wurden, gab es schon früh die Gattung der Filmmusik. In diesem Fall hatte der Komponist Max Deutsch eine fünfsätzige Sinfonie speziell für den fast eineinhalbstündigen Stummfilm komponiert, in dem es um die Gier nach Gold geht, die ein Ehepaar und dessen Diener in den Tod führt. Die obligate Liebesgeschichte führt die Tochter am Arm eines anständigen jungen Mannes am Ende hinaus in die Freiheit. Die verschiedenen Emotionen der Protagonisten veranschaulicht Deutsch in seiner Musik, die als später Nachfahre der Spätromantik daherkommt, drastisch und unüberhörbar, doch in den überleitenden oder begleitenden Phasen entwickelt sich durchaus eine eigenständige Musik. Man sollte diese frühe Musik jedoch nicht mit den Maßstäben der E-Musik oder gar der späteren, eigenständigen U-Musik messen. Sie dient der emotionalen Verstärkung der im Film gezeigten Handlung und muss dabei weitgehend den Regeln der Programmmusik folgen.
Für das Orchester war das in jeder Hinsicht eine gewaltige Herausforderung, denn es galt, achtzig Minuten ohne Pause die Spannung nicht nur zu erzeugen sondern auch hoch zu halten. Besonders schwierig – und für den Rezensenten ein offenes Rätsel – muss es gewesen sein, die Synchronität zur Handlung des Films zu wahren. In der Oper folgen die Sänger zwangsläufig dem Orchester, oder dieses muss einem plötzlich beschleunigten Gesang folgen. Doch beide Seiten können sich am andern ausrichten. Der Stummfilm jedoch läuft stur ab und gibt keinerlei optische oder akustische Signale. Im Prinzip muss der Dirigent ständig einen Blick auf die Handlung werfen, um bestimmte im Film gezeigte Gefühle gleichzeitig in Musik umzusetzen. Wenn der Schrei der Musik dem aufgerissenen Mund mit sekundenlanger Verspätung folgt, kippt die Wirkung ins Groteske. Das war jedoch bei dieser Interpretation nie der Fall, sondern die musikalischen Emotionen folgten dem Handlungsverlauf und dessen Ausdrucksmitteln nahtlos. So endete denn auch die Musik gleichzeitig mit dem in Fraktur gesetzten „Ende“ auf dem Bildschirm.
Nach dieser optischen und musikalischen Parforce-Tour durch die Stummfilmzeit war eine Pause dringend nötig, in der Orchester und Publikum Kraft für den dritten Teil schöpfen konnten. Der kam dann als „Kehraus“ mit verschiedenen gängigen Musiktiteln der Zeit, viel Witz und tänzerischen Einlagen daher. Hier hatten das Entertainer-Duo dann wieder viele Gelegenheit, ihr sprachliches, tänzerisches und pantomimisches Potential auszuspielen, was Lucy Flournoy und Manfred Callsen auch ausgiebig taten. Und das Orchester konnte sich wieder leichteren und lustvolleren Klängen widmen.
Das Publikum spendete am Ende allen Akteuren kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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