Der Untertitel dieses Buches des israelischen Philosophen lautet „Jenseits von Identität“. Damit ist zwar die Einordnung des Begriffs geklärt, doch Omri verzichtet über weite Strecken auf die Thematisierung des Identitätsdenkens. Erst am Schluss kommt er am Beispiel des israelisch-palästinensischen Konflikts darauf zu sprechen.
Natürlich schwingt der gegenwärtige identitäre Diskurs in allen Ausführungen über den Universalismus mit, weil dieser ja gerade das Gegenteil partikulären Denkens ist, aber als systematisch denkender Philosoph geht es Boehm mehr darum, diesen Begriff historisch und logisch herzuleiten anstatt ihn polemisch als Kampfmittel zu missbrauchen.
Von einer grundsätzlichen Betrachtung darüber, dass zu den menschlichen Grundrechten eigentlich auch Grundpflichten gehörten, diese jedoch sowohl im linken wie auch im liberalen Diskurs unter den Tisch gekehrt worden seien, kommt Boehm zu der Begriffsbestimmung des Universalismus als ein nicht von Menschen gemachtes Gesetz, das für alle Menschen unabhängig von jeweiliger Kultur, Hautfarbe oder anderen Besonderheiten gleichermaßen gelte. Dabei unterscheidet er zwischen einem „wahren“ und einem „falschen“, von Interessen geleiteten Universalismus. Dem wahren Universalismus liegt für ihn ein absolute Idee der Menschheit mit unveräußerlichen (Natur-)Rechten zugrunde. Die Klammer ist hier mit Bedacht gewählt, da die vermeintlich von der Natur mitgegebenen Grundrechte nur in einer religiös konditionierten Gesellschaft als von der göttlichen Instanz verliehene Sinn ergeben. In einer säkularen Welt, hier vor allem die heutige westliche, ist Natur jedoch durch eine vom blinden Zufall oder gar von einer Auslese der Stärksten gesteuerte Evolution geprägt und kann daher nicht mehr als „transzendente“ Institution wirken. Die Menschheit versteht Boehm als moralischen Begriff, der wiederum die Freiheit der ihn definierenden Menschen impliziert. Der Universalismus ist seinerseits ein abstrakter Begriff eben dieses freien Menschen. Dabei geht Boehm detailliert auf den Freiheitsbegriff ein und legt seine philosophische Komplexität offen.
Die erste Demokratie, die den Universalismus explizit in ihre Verfassung aufnahm, waren die USA – „alle Menschen sind gleich!“. So begann der Bürgerkrieg in den 1860er Jahren auch mit der Berufung auf diesen Verfassungspunkt als Kampf gegen die Sklaverei. Später änderte sich das jedoch, und die pragmatische Begründung der zu bewahrenden Einheit der Nation gewann die Oberhand. So kam es zum „Unionismus“, einem von politischen Interessen statt von transzendenten Gesetzen beherrschten Universalismus.
In Abgrenzung zum Universalismus diskutiert Boehm anschließend die Identitätsbewegung. Wie in der Kunst beansprucht diese Bewegung ein Urheberrecht, hier auf Leid, das Außenstehende weder verstehen können noch diskutieren oder gar beanspruchen dürfen. Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, ob das Leid der anderen nachvollziehbar sei. Auch wenn das nicht der Fall ist, sieht Boehm kein Recht zur identitären „Privatisierung“ des Leids. Grundsätzlich ist das Denken im Universalismus für Boehm öffentlich, in der Identitätsbewegung jedoch privat. Dabei weist er darauf hin, dass das „Wir“, sei es biologisch oder politisch, stets selbst identitär ist.
Vom „öffentlichen“ Denken kommt Boehm auf die Aufklärung und speziell auf Kant zu sprechen. Zwar bedeutet demnach Aufklärung, nicht den (falschen) Propheten zu folgen, sondern selbst zu denken; das erfordert jedoch erst einmal die genaue Definition der Prophetie. Boehm holt weit aus zum Alten Testament und definiert den Propheten als Vermittler zwischen der Gottheit und dem Menschen. Dabei ist – neben Intelligenz und Rhetorik – die Einbildungskraft die wesentliche Eigenschaft eines erfolgreichen Propheten. Von der Prophetie kommt Boehm fast zwangsläufig zum Monotheismus und diskutiert diesen am alttestamentarischen jüdischen Beispiel. Hier betrachtet er die Rollen von Mose und Maimonides, und bei letzterem verortet er den Ursprung des Universalismus, dessen transzendente Gültigkeit eine höhere Instanz voraussetzt, zumindest im Altertum.
Die komplizierte jüdische Religionsgeschichte dient Boehm als Beispiel für die Entstehung und Bedeutung des Universalismus. Bei der Opferung Isaaks durch Abraham spielen die Abstufungen der „Gottheiten“ eine gewichtige Rolle. Unterschiedliche Namen – Jahve und Elohim – deuten demnach nicht auf mehrere Götter hin, sondern der eine steht dabei nur für die von Menschen gemachten Gesetze, die einzuhalten sind. Ohne hier in die Details der Herleitung zu gehen, ist festzuhalten, dass für die Juden der Frühzeit laut Boehm selbst die oberste göttlichen Instanz an die Gesetze der Moral gebunden war. Es gibt also etwas universell Gültiges jenseits der Gottes, eben den Universalismus. Diese Erkenntnis ist für Boehm jedoch keine Waffe gegen die Religion, sondern sie soll nur zeigen, dass der Universalismus als Idee schon zu Zeiten des Alten Testaments existierte.
In dem abschließenden Epilog weist Boehm selbst auf die Kritik einer Kollegin hin, die ihm vorwirft, sich auf abgehobenen intellektuellen Ebenen ohne konkreten Bezug zu aktuellen politischen Bewegungen wie Identität, Post-Kolonialismus etc. zu bewegen. Als Antwort verweist er auf den Nahost-Konflikt, der für ihn von zwei identitären Bewegungen – das Wir der Juden des Holocausts und das Wir der unterdrückten Palästinenser – befeuert wird. Eine Lösung sieht er nur, wenn beide Seiten einen modernen – eben radikalen – Universalismus verinnerlichen und sich aus der jeweiligen identitären Wagenburg lösen.
Das Buch erweckt bei der Lektüre tatsächlich streckenweise den Eindruck einer weltfremden Abstraktion, eben weil Boehm auf jeglichen konkreten oder gar polemischen Verweis verzichtet. Doch bei genauer Lektüre schält sich langsam die Erkenntnis heraus, dass er mit eben dieser Abstraktion viel mehr über die aktuelle Weltlage aussagt als mit einer vordergründigen Abhandlung anhand aktueller Konflikte.
Das Buch ist im Propyläen-Verlag erschienen, umfasst 175 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
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