Der Begriff der „Anderen“ im Titel dieses Buches trägt eine doppelte Bedeutung. Einmal sind es die „anderen“ Menschen, deren erlittenes Leid auch die nicht Betroffenen erkennen und wertschätzen sollten; darüber hinaus bezeichnet dieses Wort jedoch auch und gerade die Gruppen und Minderheiten, deren Leid entweder wegen der vergangenen Zeit oder wegen eines anderen, wesentlich größeren Leides in den Hintergrund getreten ist. Ihre Geschichte aus dem Halbdunkel der Vergangenheit hervorzuholen und einer nicht zuletzt wegen der Informationsüberflutung vergesslichen Öffentlichkeit nahe zu bringen, sieht Charlotte Wiedemann als ihre Aufgabe. Ihre langjährige Tätigkeit als Auslandsreporterin verleiht ihr dabei Glaubwürdigkeit, führte sie sie doch an die Stätten des jeweils erlittenen Leids und ließ sie dessen Nachwirkungen hautnah spüren.
Das erwähnte „größere, alles überdeckende Leid“ sieht sie – als Deutsche – natürlich im Holocaust. Dessen vor allem von der deutschen Erinnerungskultur aus verständlichen Gründen geprägte „Singulärität“ verbietet den Vergleich mit anderen Menschheitsverbrechen. Charlotte Wiedemann war daher von der ersten Seite dieses Buches mit der Gefahr einer „Relativierung“ des Holocaust konfrontiert, die es zu vermeiden galt. Denn die Autorin ist keine israelkritische Aktivistin, sondern ist sich der Monstrosität des Holocaust in vollem Umfang bewusst. So bleibt ihr nur der Weg, das Leid der „Anderen“ ohne eine implizite oder gar explizite Relativierung des Holocausts aufzuwerten. Das gelingt ihr mit diesem eindringlichen Buch trotz mancher intellektueller Gratwanderung auf bewundernswerte Weise.
Die ersten „Anderen“ findet sie in den kolonisierten Völkern, die sich der europäische Westen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert ohne jegliches Schuldbewusstsein aneignete. Wiedemann zeigt, welche langfristigen Folgen die Herabwürdigung und Demütigung der jeweils kolonisierten Gesellschaften für diese zeitigten. Dabei stellt die Sklaverei als Höhepunkt der Kolonisierung für die afro-amerikanischen Gesellschaften das größte Trauma dar. Der Westen hat jedoch außer späten Gewissensbissen keine wirkliche Wiedergutmachung geleistet und verschaffte sich mit der Abschaffung eines verbrecherischen Systems sogar noch ein gutes Gewissen.
In diesem Zusammenhang spricht Wiedemann auch den sogenannten „Universalismus“ der europäisch-westlichen Erinnerungskultur an, der sowohl die eigenen Untaten als auch deren vermeintliche Wiedergutmachung für universell gültige Marken des Erinnerns hält. Am Beispiel von Indonesien zeigt Wiedemann jedoch, dass dort der Holocaust eine wesentlich geringere Bedeutung hat als etwa die Unterdrückung durch die niederländischen Kolonialherren. Ohne selbst dem Holocaust seine Bedeutung abzusprechen, verweist die Autorin auf die einfache Tatsache, dass dies in anderen Weltgegenden unterschiedlich gesehen wird. Moralische Entrüstung ist macht- und sinnlos gegenüber solchen Fakten.
Als besonders eklatantes Kolonialbeispiel führt sie den Fall von Algerien an, das sich erst in den frühen sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in einem erbitterten Kampf von der Kolonialmacht Frankreich befreien konnte, die zwar im beiden Weltkriegen algerische Soldaten gerne gegen Deutschland einsetzte, ihnen aber anschließend die Anerkennung als gleichberechtigte Bürger verweigerte. Auch daher rührt die Abneigung der Nordafrikaner gegenüber Frankreich und dem Westen, denn bittere Erinnerungen halten sich lange.
Am Beispiel der „Killing Fields“ von Kambodscha verweist Wiedemann auf die Grenzen der Empathiefähigkeit. Verbrechen, die sich nicht im Dunstkreis der führenden (Industrie-)Nationen. sondern im „Hinterhof“ der Schwellen- und Entwicklungsländer ereignen, erreichen nur kurzfristig die für eine langfristige Aufmerksamkeit erforderliche Empörungsschwelle. So konnten sich die Millionen Opfer der Roten Khmer nicht dauerhaft in die internationale Erinnerungskultur einschreiben, sondern bleiben den Kambodschanern als lokales Trauma. Hier spielen auch die geringe ökonomische und politische Präsenz sowie die fehlende Einbettung in politische Bündnisse des Landes eine Rolle. Wiedemann spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von „vernachlässigbarem Leben“.
Eine weitere vergessene Opfergruppe sind die sowjetischen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges, die als Zwangsarbeiter in Deutschland millionenfach zu Tode kamen. Hier wurde eine eventuelle Empathie und Gedenkkultur durch Kalten Krieg und Antikommunismus von vornherein erstickt. Und die vom Nationalsozialismus geprägte deutsche Bevölkerung tat ihr Übriges. Das berüchtigte Gefangenenlager im westfälischen Stukenbrock, Kern der Vernichtungsmaschinerie der Nazis, verschwand mit Kriegsende aus der Erinnerung der lokalen Bevölkerung und wurde erst Jahrzehnte später zum Mahnmal. Hier war nicht nur fehlende Empathie der Grund, sondern eine gezielte Verdrängung des allseits Gewussten.
Viele Deutsche begegnen dem Kolonalismus mit entspannt-distanzierter Kritik, da Deutschland selbst ja nur für kurze Zeit und überdies auch nur über unbedeutende Kolonien verfügt habe. Wiedemann entlarvt diese Einstellung als Wunschdenken, da die Deutsche Kolonialmacht auch in dieser nur kurzen Zeit in Südwest- (Namibia) und Ost-Afrika (Tansania) in zwei kurzen aber grausamen Kriegen gegen lokale Aufstände Millionen in den Tod schickten. Auch hier versteckt man sich gerne hinter den „bösen“ Kolonialmächten England und Frankreich, die zwar wesentlich längere und grausamere Kriege in ihren Kolonien führten, aber deshalb die deutsche Kolonialverwaltung in keiner Weise entschulden. Auch diese ehemals deutschen Kolonien schleppen laut Wiedemann ihr Trauma in den Erinnerungen mit sich.
Dann wieder reist die Autorin ins Baltikum, nur um dort eine Erinnerungskultur zu finden, die vornehmlich von den im Dritten Reich und während des anschließenden Stalinterrors ermordeten Balten berichtet, jedoch die mit Hilfe eigener Kollaborateure umgebrachten Juden lange Zeit nur im Nachgang erwähnte und die eigenen Mittäter sogar oft noch als Widerstandskämpfer gegen Stalin ehrte. Ähnliches gilt für andere ehemaligen Ostblockländer wie Polen. Wiedemann fasst diese brisanten Beispiele durchaus nicht mit spitzen Fingern an, unterschlägt sie aber auch nicht, sondern zeigt an ihnen die Grenzen der Empathie und die Macht der Verdrängung auf. Dabei gelingt es ihr – als Nachfahrin der Haupttäter! -, weder die deutsche Schuld zu relativieren noch die Schuld der Kollaborateure zu marginalisieren.
Wenn man als Leser schon darüber nachzudenken beginnt, warum Wiedemann Holocaust und deutsche Schuld gegenüber den Juden nur als Vergleichsbasis heranzieht, wird dann doch Treblinka mit aller Macht zum Thema. Dieses reine Vernichtungslager – ohne Selektion und Aufschub! – für Millionen vor allem polnischer Juden bietet heute die reinste Landschaftsidylle, da die Deutschen nach dem Ende des Lagers alles abtrugen und unterpflügten. Man baute jedoch das Lager nicht nach sondern erinnerte nur mit einigen Mahnmalen an einen der schrecklichsten Orte des Zweiten Weltkrieges, und es gelingt Wiedemann, gerade durch die scheinbar vordergründige Beschreibung des ländlichen Friedens den Schrecken lebendig werden zu lassen. Hier findet sie auch den Platz, um über die „Einzigartigkeit“ von Menschheitsverbrechen zu reflektieren. Ihre Erkenntnisse sind für die deutsche Erinnerungskultur jedoch kein Balsam, denn sie vermutet nicht zu Unrecht hinter dem Bestehen auf der Singularität des Holocausts ein Bestehen auf der moralischen Bedeutung des eigenen Schuldeingeständnisses, das gleichzeitig als Absolution und moralische Selbsterhöhung empfunden werde.
Das führt sie dann zum Schluss zu dem Thema „Israel und Palästina“, zur Siedlungspolitik und zu der Frage, inwieweit Kritik an Israel mit Antisemitismus gleichzusetzen sei. Sie erkennt die – angesichts von Holocaust und Exodus – fast tragische Verirrung der israelischen Siedlungspolitik, sieht aber auch gleichzeitig deren Instrumentalisierung durch – linke wie rechte – Antisemiten. Sie plädiert für mehr Empathie gegenüber den Forderungen der vertriebenen Palästinenser, ohne den Israelis deswegen das Recht auf einen eigenen Staat zu verweigern. Sie bietet keine einfache Lösung an, die es nicht gibt, erkennt aber das politische wie menschliche Dilemma, in dem sich alle Beteiligten befinden. In diesem Zusammenhang fordert sie auch von Deutschland mehr Berücksichtigung aller – wenn auch widerstreitenden – Forderungen und ein Ende des Wegduckens hinter dem vermeintlichen Schutzschild deutscher Schuld.
Charlotte Wiedemann greift im Laufe ihrer Betrachtungen noch viele andere aktuelle und historische Leiderfahrungen und Gerechtigkeitsklagen auf, die den Gesamtkomplex abrunden und zum Verständnis einer komplexen Welt beitragen. Wer sich näher auf das Thema nicht wahrgenommenen Unrechts einlassen möchte, dem sei dieses Buch dringend empfohlen. Es ist im Verlag „Propyläen“ (Ullstein) erschienen, umfasst 288 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
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