Als Abdulrazak Gurnah 2021 den Nobelpreis für Literatur erhielt, war der tansania-stämmige Autor bei uns nahezu unbekannt. Keines seiner Bücher war in deutscher Übersetzung erhältlich. Wer sofort einen seiner Romane lesen wollte, musste auf das englische Original zurückgreifen, das bereits 1994 in Großbritannien erschienen ist.
Gurnahs Familie gehörte der muslimisch-arabischen Minderheit auf Sansibar an, wo Abulrazak Gurnah 1948 geboren wurde. Als die arabische Minderheit in den 1960er Jahren verfolgt wurde, floh Gurnah nach Großbritannien. Er promovierte an der Universität von Kent und lehrte dort schließlich bis zu seinem Ruhestand als Professor für Englisch und postkoloniale Literatur.
Inzwischen sind einige seiner Romane auch auf Deutsch erschienen, unter anderem auch der Roman „Das verlorene Paradies“.
Will man die historischen und gesellschaftlichen Implikationen des Romans ganz verstehen, sollte man sich über die Geschichte und die Geographie des Landes vorab informieren. Hier nur so viel: Tanganjika ist der Festlandsbereich des heutigen Tansania, zu dem sich Tanganjika, Sansibar und Azania nach der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1964 zusammengeschlossen haben.
Der Roman „Das verlorene Paradies“ spielt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im damaligen Tanganjika, das sich die Deutschen und die Briten als Kolonialreich aufgeteilt hatten.
Gurnah führt uns aus der Perspektive des Afrikaners in ein Land, in dem afrikanische Lebensformen zunehmend auf die Machtstrukturen der europäischen Kolonialherren stoßen.
Die afrikanische Gesellschaft in Tansania und Sansibar ist um die Jahrhundertwende multiethnisch geprägt. Die Küstenstädte sind große Handelszentren, die arabische, indische und auch afrikanische Händler anziehen. Große Karawanen ziehen ins Hinterland, um von der armen Landbevölkerung für den Markt wertvolle Güter, insbesondere Elfenbein, billig einzukaufen.
Die Macht der reichen Kaufleute prägt das Leben der Armen: Sie werden verführt, sich zu verschulden, so dass sie schließlich ihre Kinder an die Kaufleute als Pfand abgeben müssen. Es ist eine Form des Menschenhandels und der indirekten Versklavung der Kinder, die ein Leben lang Bedienstete des Händlers sind, bei dem der Vater verschuldet ist. Sie wären frei, wenn der Vater seine Schulden bezahlen könnte, aber das findet fast nie statt.
Im Mittelpunkt des Romans stehen die Figuren des Großkaufmanns Aziz und des Jungen Yusuf, der mit seiner Familie in einem Dorf im Hinterland lebt. Der kleine Yusuf muss von einem Tag auf den anderen als 12-Jähriger seine Familie und sein Dorf verlassen und mit „Onkel Aziz“ in die Stadt gehen. Der Junge versteht lange nicht, was das für ihn bedeutet. In seiner Naivität glaubt er, dass Aziz wirklich sein Onkel ist, der ihm wohlgesonnen ist, weil er ihm bei den sogenannten „Besuchen“ bei seinem Vater immer ein Geldstück zugesteckt hat. Den ersten Realitätsschock erlebt er, als er in der Stadt nicht in die Villa des „Onkels“ mitgehen darf, sondern als Gehilfe Khalil zugeteilt wird, einem jungen Mann, der einen Laden von Aziz betreibt. Khalil ist wie Yusuf das Opfer eines bei Aziz verschuldeten Vaters.
Khalil nimmt sich des außergewöhnlich hübschen Jungen an, lehrt ihn, seine untergeordnete Position realistisch zu sehen: Aziz sei nicht der mildtätige, gute Onkel, sondern der Herr, dem man unterwürfig die Hände zu küssen habe.
Yusuf lebt einige Jahre im Laden mit Khalil, nicht wirklich unglücklich, aber doch nachts von Albträumen und Ängsten geplagt, was auf seine besondere Sensibilität verweist. Was ihn in all dem Elend seines Alltags trägt, ist seine Neugier, er will mehr sehen und wissen. So überredet er Khalil, mit ihm die Stadt zu erkunden und ans Meer zu gehen, das Khalil noch nie gesehen hat. Yusufs große Sehnsucht aber ist der Garten, der die Villa umgibt. Yusuf kann den Garten nur heimlich betreten, wenn Aziz mit seiner Karawane unterwegs ist. Diesen Garten beschreibt Gurnah als wahren Paradiesgarten mit den herrlichsten Früchten und Blumen, die betörenden Duft verströmen, ein Sehnsuchtsort schlechthin, wie ein Versprechen, dass es auch für ihn, Yusuf, ein besseres Leben geben könnte. In diesem Sinne durchzieht das Gartenmotiv den ganzen Roman.
Gleichzeitig birgt dieser Garten das Geheimnis von Aziz’ unsichtbarer Frau, die an einer seltsamen Krankheit leidet. Er ist auch ein Bild für die hermetisch abgeschlossene Welt der Reichen, von der der Großteil der Bevölkerung ausgeschlossen ist
Yusuf mit seiner außergewöhnlichen Schönheit erscheint als ein Auserwählter in all dem Alltagselend, auf den vielleicht doch eine Erlösung wartet.
Yusufs Sehnsucht nach einem anderen Leben scheint in Erfüllung zu gehen, als er zum ersten Mal auf eine von Aziz’ Reisen mitgenommen wird. Es ist jedoch nur eine scheinbare Wohltätigkeit von Aziz, der mit den Menschen umgeht, wie es ihm passt. In einem abgelegenen Ort im Inland wird Yusuf der Familie des kleinen, von Aziz abhängigen Kaufmanns Hamid zugewiesen, wo er wieder untergeordnete Arbeiten im Laden und in der Familie zu verrichten hat. Dennoch hat er Glück: Auf einer kleinen „Geschäftsreise“ kann er bei Männergesprächen dabei sein, in denen es um die verschiedenen Sprachen, die verschiedenen Ethnien, die Rolle der eindringenden Europäer und um die Lage der einfachen Leute geht. Yusuf erfährt, welche Rolle die Religionen haben und wie sich die Menschen unterschiedlicher Religionen begegnen. Der jetzt 16-Jährige, dessen Schulbildung mit zwölf Jahren abrupt endete, kann nur staunend zuhören, welche unterschiedlichen Sichtweisen auf Religion und Lebensweisen sich vor ihm entfalten. Gerade die arme Bevölkerung ist muslimisch geprägt und bereit, ihre aussichtslose wirtschaftliche Situation als gottgewollt hinzunehmen.
In diesen Gesprächen ist auch der „Paradiesgarten“ Thema, der als idealer Ort im Koran ebenso beschrieben ist wie im Alten Testament. In der verdorrten Welt des Hinterlandes wirkt die Idee des Gartens auf Hamid als eine Projektion in die Zukunft, das heißt ins Jenseits, während der skeptische, indisch-stämmige Automechaniker Kalasinga auf die reale Existenz solcher Gärten in Indien verweist, die jedoch unerreichbar sind.
Auch das Vordringen der Europäer ist ein Diskussionsthema unter den Männern. Der eine glaubt in naiver Gutmütigkeit, dass ihr Land für die Europäer uninteressant sei und dass sie wieder abziehen würden. Der andere prophezeit, dass die Europäer die einheimische Bevölkerung als Wilde sähen und deren Kultur und sie selbst zerstören bzw. versklaven wollen. Europäer werden als völlig fremde Wesen dämonisiert, die eine Sprache sprechen, die nicht menschlich ist, die Eigenschaften haben, die ebenfalls nicht menschlich sind, denn sie könnten Tote zum Leben erwecken. Tatsächlich hat jemand beobachtet, wie ein Europäer einen anderen durch Mund-zu-Mund-Beatmung gerettet hat.
Für Yusuf bedeuten diese Gespräche eine Initiation ins Erwachsenenleben. Als dann noch herauskommt, dass er gar nicht lesen kann, erbarmt sich Hamid. Er schickt ihn mit seinen Kindern in die Koranschule, wo er innerhalb zweier Monate den ganzen Koran lesen lernt und eine auffällige Frömmigkeit entwickelt, die selbst Hamid unheimlich wird. Da bietet sich Kalasinga an, dem Jungen das englische Alphabet beizubringen und ihm darüber hinaus Grundkenntnisse in Mechanik zu vermitteln. Das bedeutet einen weiteren Schritt in die Erwachsenen-Welt und mögliche Eigenständigkeit.
Schließlich nimmt Aziz Yusuf auf eine große Karawanen-Reise ins Hinterland mit. Diese Reise wird für alle Beteiligten zum Albtraum. Überall lauern Gefahren, aber auch finanzielle Verluste für Aziz durch Zölle, Tribute und Bestechungsgelder. Gurnah erzählt diese Reise so anschaulich, dass die unübersichtlichen gesellschaftlichen Strukturen im Land sichtbar werden. Sichere Wege gibt es nicht, jeder lokale Herrscher kann die Karawane aufhalten und unter Druck setzen. Die Risiken für Leib und Leben wie auch das finanzielle Risiko für den „Unternehmer“ sind immens. In einer besonders prekären Situation ist es Yusufs Schönheit, die die Karawane rettet.
Was für Yusuf zu Beginn als ein lange ersehntes Abenteuer erscheint, wird zur Prüfung und zum Reifeprozess, aus dem er trotz der ungeheuren Strapazen gestärkt hervorgeht. Die Erfahrung menschlicher Rohheit, insbesondere die Willkür und Brutalität des Organisators der Karawane, lässt ihn nach der Rückkehr seine eigene Unfreiheit schmerzlich erkennen. Wieder ist der Garten, in dem er nun arbeiten kann, ein Ort der Sehnsucht, der einen kleinen Raum von Freiheit zu geben scheint. Und dennoch geht grade von diesem Ort eine besondere Gefahr für Yusuf aus. Worin die besteht und wie Yusuf ihr entkommt, soll hier nicht verraten werden. Am Ende fasst Yusuf einen spontanen Entschluss, der ihm Freiheit bringen soll. Die Leser, die mehr wissen als er, werden eher entsetzt sein angesichts seiner Illusionen.
Gurnahs Roman macht es uns nicht leicht, in diese ganz andere afrikanische Welt einzusteigen, in der aufgeklärtes Denken neben Mythen und Volkserzählungen steht. Das ist alles andere als eine homogene Welt. Gurnah zeigt ohne Beschönigung eine Klassengesellschaft, in der die Reichen auf Kosten der Ärmeren nur auf Profit aus sind; in der Menschenhandel zwar verboten ist, aber immer noch betrieben wird; in der lebenslängliche Versklavung von Mitmenschen an der Tagesordnung ist.
Das Eindringen der Europäer – hier der Belgier, Deutschen und Briten – verschärft diese Situation noch. In den Gesprächen werden insbesondere die Deutschen für ihr Freude am brutalen Bestrafen hervorgehoben.
Am Ende steht dann der Krieg zwischen Briten und Deutschen um die Kolonialmacht. Und wer wird dafür gewaltsam rekrutiert? Die jungen, ahnungslosen Afrikaner!
Gurnahs Roman hat mir gezeigt, wie wenig ich von afrikanischer Geschichte und Denkweise weiß. Der Roman ist ein Ansporn, mehr von diesem Kontinent verstehen zu wollen.
Der Roman ist in der deutschen Übersetzung von Inge Leipold im Penguin Verlag erschienen, hat 336 Seiten und kostet 25 Euro.
Elke Trost
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