Der Titel dieses Buches erinnert nicht zufällig an John le Carrés Thriller „Der Spion, der aus der Kälte kam“ aus der Zeit des Kalten Krieges. Allerdings basiert die Analogie hier eher auf dem Kontext der Forschungen als auf thematischen Kongruenzen, obwohl natürlich gerade Friedrich Nietzsche von den verschiedenen politischen Lagern nicht nur unterschiedlich bis gegensätzlich gedeutet wird und wurde sondern gerne auch in diesem Sinne als intellektuelle Waffe benutzt wurde.
Wer dieses Buch zur Hand nimmt und noch über keine großen Kenntnisse dieses Philosophen – bei dieser Bezeichnung fangen die Diskussionen schon an – verfügt, sollte sich vielleicht hier im Schnellgang grundlegendes Wissen aneignen. Denn das vorliegende Buch reißt Nietzsches Thesen und Aussagen stets nur als Unterstützung oder Erklärung der Archivforschung an, ohne sie detaillierter auszuführen. Das lässt die Leser oft mit inkonsistentem Viertelwissen bezüglich des Forschungsgegenstandes zurück. Das ist hier jedoch nicht als Kritik zu verstehen, denn Mittelpunkt dieses Buches ist nicht das „enfant terrible“ der deutschen Philosophie, sondern die beiden Forscher, die seine handschriftlichen Notizen – eher „Krakeleien“ – zu entziffern versuchten.
Giorgio Colli (1917-1979) und Mazzino Montinari (1928-1986) waren zwei italienische Philologen und Philosophen, die beide schon früh Interesse an Nietzsche entwickelten. Dabei betrachtete Montinari Colli stets als seinen Mentor oder als „paidagoge“ im alt-griechischen Sinne. Colli war nämlich ein Verehrer der griechischen Philosophie, speziell Platons, und betrachtete ein weltabgewandtes, dem „Wahren“ zugewandtes Leben als Ideal. Das Besondere an Nietzsche wiederum ist, dass sich ihm fast alles entnehmen lässt: von der (intellektuell) vornehmen Weltferne bis zum faschistisch und nationalsozialistisch missverstandenen „Übermenschen“.
Felsch widmet einen großen Teil seines Buches den Lebensläufen der beiden Geisteswissenschaftler einschließlich ihrer Kindheit, Jugend und intellektuellen Ausbildung. Montinari geriet schon als Siebzehnjähriger unter Collis intellektuellen Einfluss, studierte bei ihm und fand auch bei ihm die erwünschte intellektuelle Zuwendung. Beide durch- und überlebten Faschismus und Zweiten Weltkrieg ohne größere tatsächliche oder intellektuelle Blessuren und konnten, jeder auf seine Weise, nach dem Krieg ihre Arbeiten wieder aufnehmen. Dabei durchlief Montinari eine intensive Zeit als überzeugter Kommunist, die ihn tief in die PCI führte und ihm sogar Parteiämter einbrachte. Erst seine Rückwendung zur philosophischen Arbeit löste ihn eine wenig von der Partei, ohne dass er gleich dem Glauben abschwor. Colli dagegen hielt sich sowohl vom Faschismus als auch vom Kommunismus fern und verfolgte weiter den Lebensweg des unpolitischen Gelehrten.
Beiden war jedoch das starke Interesse an Nietzsche geblieben, das sie fast zwangsläufig in der Zeit des Faschismus entwickelt hatten, und wenn nur aus dem Grund, diese Antriebskraft der rechten Ideologien zu entschlüsseln. Da die einschlägigen intellektuellen Kreise aus nahe liegenden Gründen Nietzsche in den fünfziger Jahren nur mit den Fingerspitzen oder gar nicht anfassten, blieb hier ein weites Feld unbearbeitet. Nach Nietzsches geistig umnachtetem Tod hatte dessen Schwester das vermeintliche Hauptwerk „Der Wille zur Macht“ herausgegeben, das in den fünfziger Jahren zunehmend als intellektuell unbefriedigende und ideologische zusammengeschusterte Collage bewertet wurde. Colli und Montinari kamen zu der Überzeugung, dass man Nietzsche nur auf der Basis seiner umfangreichen handschriftlichen Notizen verstehen könne, die jedoch nach dem Krieg in einem Weimarer Archiv lagen, also in der DDR, dort jedoch weder – aus ideologisch-historischen Gründen – erforscht noch für westliche Forscher freigegeben wurden.
Montinaris intensive Beziehung zum Kommunismus und speziell zur PCI brachten ihm dann unerwartet die Erlaubnis ein, sich Nietzsches Aufzeichnungen in Weimar anzusehen. Seine Offenheit gegenüber dem Sozialismus und ein erstaunlich weltoffener Archivdirektor ermöglichten schließlich eine permanente Verlängerung seines Aufenthalts von 1961 bis zum Ende der sechziger Jahre. In dieser Zeit entwickelte Montinari eine ausgefeilte Methode, um handschriftliche Notizen nicht nur chronologisch zu sequenzieren, sondern daraus auch den „Fortschritt“ eines Werkes im Sinne eines teleologischen Arbeits- und Denkprozesses zu entwickeln. Für eine – historisch – kurze Zeit wurde Montinari als international bedeutender Nietzsche-Experte gehandelt, der sogar seinem Lehrer Colli widersprach, was fast zu einem wissenschaftlichen Zerwürfnis führte.
Doch die Ironie des philosophischen „Mainstreams“ wollte es, dass Montinaris Ergebnisse gerade in dem Augenblick ihren Wert verloren, als er – zusammen mit Colli und einem großen Verlag – zur großen neuen Nietzsche-Edition ausholte. Deleuze, Derrida und vor allem Foucault verwarfen vehement die Idee vom zielgerichteten Arbeitsprozess, den es zu erforschen gelte, und setzten die „Faksimile“-Idee in die Welt, die eine gleichzeitige und hierarchielose Präsentation von Nachlässen ohne posthume (Um-)Deutung beinhaltete. Zwar kamen eine ganze Reihe von Bänden der geplanten Nietzsche-Edition auf den Markt, doch die wissenschaftliche Nachfrage blieb aufgrund dieser neuen Entwicklungen aus, womit auch die weiteren Arbeiten Montinaris nicht mehr oder nur noch eingeschränkt zu finanzieren waren.
Da dieses Buch kein „Thriller“ mit einem dramatischen Showdown ist, sondern tatsächliche Abläufe beschreibt, endet es denn auch mit Montinaris Rückkehr nach Italien, einem durchwachsenen weiteren Lebensweg mit viel Nietzsche aber ohne den großen wissenschaftlichen Durchbruch bis zu seinem plötzlichen Tod 1986.
Der Wert dieses Buches liegt in der Beschreibung einer historisch kompakten Epoche aus philosophischer und philologischer Sicht mit dem Schwerpunkt auf der schillernden Figur Nietzsche, jedoch ohne jegliche fiktive oder gar romanhafte Elemente. Für Nietzsche-Fans und -Kenner bietet dieses Buch sicherlich aufschlussreiche Erkenntnisse, für das breitere Publikum wohl weniger.
Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 287 Seiten und kostet 26 Euro.
Frank Raudszus
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