Der Titel „Kasimir und Karoline“ suggeriert vor allem bei Theaterunkundigen die Vorstellung einer mehr oder minder sentimentalen Liebesgeschichte. Und darum geht es in Ödön von Horvaths Stück in erster Näherung tatsächlich. Das Paar besucht Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts gemeinsam das Münchner Oktoberfest, und Karolines größter Wunsch ist, einmal Achterbahn zu fahren. Doch Kasimir ist nicht nach feiern zumute, denn er hat gerade seine Arbeit verloren und kann daher seine Aufgabe als spendabler Liebhaber nicht ausfüllen. Seine Frustration schlägt um in Aggression gegen Karoline, und er zeigt sich den kriminellen Angeboten des Vorstadtgangsters Merkl (sic!) durchaus nicht abgeneigt. Daraufhin lässt sich Karoline erst von dem schüchternen Schürzinger platonisch trösten und geht dann auf das zweideutige Angebot einer Spritztour mit dem Cabriolet des alkoholisierten Kommerzienrates ein. nach einigen turbulenten Szenen ist am Ende zwar die Liebesbeziehung geplatzt, aber es entstehen zwei zaghafte neue. Das Ende ist zwar offen, doch eher skeptisch statt optimistisch.
Horvath legt die Protagonisten als Vertreter typischer Rollenwechsel an. Kasimir ist noch dem patriarchalischen Männerbild der Kaiserzeit verhaftet, das ihn als ernährenden und beschützenden Haushaltsvorstand sieht. Dass er diese Rolle nicht gerecht werden kann, verunsichert ihn existenziell. Karoline ist eine pragmatische, nach vorne schauende junge Frau, die jedes Problem für lösbar hält und gerade in schlechten Zeiten ihrem Lebensgefährten zur Seite stehen will. Das gerade kränkt Kasimir um so mehr, da er dadurch in die – weibliche! – Rolle des zu schützenden Opfers gerät. Die Beziehung scheitert – bittere Ironie – nicht zuletzt an Karolines Emanzipation, und sie nimmt diese Trennung denn auch aktiv an.
Weitere Rollen stehen für die Gesellschaft der zerbrochenen Nachkriegsgesellschaft. Der Kommerzienrat hat seinen Besitz zwar über den Krieg gerettet, wirkt aber durch dessen Ausgang desillusioniert und kompensiert das durch Alkohol und Schwadronieren. Der mit ihm zechende Landgerichtsdirektor ist dabei sein Bruder im Geiste, ist doch auch seine Welt zusammengebrochen. Elli und Maria sind zwei Frauengestalten, die der Not der Zeit durch fragwürdige Beziehungen zu gut situierten Männern zu entgehen versuchen. Sie ziehen sich wie ein Generalbass durch das Stück.
Regisseurin Renate Renken hat das Stück als psychologisches Drama angelegt, in dem die Handlung eine untergeordnete Rolle spielt. Das Oktoberfest als Handlungsort wird nur sparsam angedeutet und jeglicher Klamauk vermieden, insofern er, wie die entwürdigende Präsentation der „Affenfrau“, nicht eine scharfe gesellschaftskritische Note aufweist. Den Jahrmarktscharakter des Oktoberfests symbolisiert eine – eifrig benutzte – Spielplatzrutsche, und Rainer Poser als Kommerzienrat sowie Jens Hommola als Landgerichtsdirektor spielen die beiden sich intensiv dem Alkoholgenuss hingebenden älteren Herren nie als besoffene Knallchargen. Und Jürgen Knittel verleiht dem ungelenken Schürzinger nicht nur einen ganz eigenen bayerischen Zungenschlag, sondern auch einen so eigenartigen wie sympathischen Charakter.
Im Mittelpunkt stehen jedoch Axel Raether als Kasimir und Nicole Klein als Karoline. Sie verleihen ihren Szenen abwechselnd den Tenor der Melancholie und des Aufbegehrens gegen die Verhältnisse und vermeiden sowohl sentimentales Pathos als auch deklamatorische Dramatik. Sie sind einfach zwei verlorene Menschen, die nur das kleine Glück festhalten wollen, aber es einfach nicht schaffen. Und doch verlieren ihre Figuren nicht den Lebensmut, sondern suchen wieder neue Beziehungen. Raether und Klein beweisen selbst im Aufbegehren, dass die leisen Töne der inneren Selbstgespräche und eine kontrollierte Mimik das Leiden viel besser zum Ausdruck bringen als expressive Gesten und Reden.
Heike Pallas liefert dazu am Klavier die musikalische Begleitung mit typischen Titeln der zwanziger Jahre, die durch ihren Wiedererkennungeffekt das passende Zeitkolorit schaffen.
Wenn am Ende der nicht vorhandene Vorhang fällt, bleiben alle Beziehungsfragen offen. Die Besucher jedoch müssen sich erst wieder in der Realität des Zuschauersaals der „Neuen Bühne“ zurechtfinden, hatten sie sich doch mitnehmen lassen in die schwere Zeit nach dem ersten Weltkrieg.
Frank Raudszus
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