Geheimnisvoll beginnt der Roman „Eine andere Zeit“ von Helga Bürster. Die Romanidee ist im Jahr 2019 in dem kleinen Fischerdorf Kamp in Vorpommern verortet, das einsam und vom Fortschritt abgeschnitten gegenüber von Usedom liegt. Als die Mauer 1989 in Berlin fiel, sind viele Dorfbewohner in den Westen gegangen, um dort ihr Glück zu versuchen und dem Mief und Eingesperrtsein in der DDR zu entkommen. Nur Enne, Tochter eines Landwirts, war im Osten geblieben, aus Gründen, die der Leser im Laufe der Lektüre erfahren wird.
Jetzt, im Sommer 2019, tut sich etwas im Dorf. In ein leer stehendes Haus ist jemand eingezogen. Doch diese Person hält sich eher im Haus versteckt und sucht keinen Kontakt zu den Dörflern. Enne ist nun doch neugierig geworden und stellt der neuen Nachbarin einen Korb mit ein paar Gläsern frisch gekochten Pflaumenmuses vor die Tür, da niemand auf ihr Klopfen reagiert. Mittags ist der Korb leer, und im Dorf rätselt man, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Wer mag da wohnen? Über den Postboten erfährt Enne den Namen der neuen Bewohnerin.
Die geheimnisvolle Fremde weckt in Enne Erinnerungen an ihre jüngere Schwester Suse, die vor dreißig Jahren nach der Flucht in den Westen verschwunden ist. Man hörte niemals mehr etwas von ihr; kein Anruf, kein Brief erlöste die Eltern, die Schwestern oder den „Fast-Ehemann“ Eddy, der damals auf der Hochzeitsreise mit ihr nach Ungarn gereist war und sie im Gewühl der Ostflüchtlinge an der Grenze verloren hatte.
Der Roman erzählt die Familiengeschichte um Suse vom Ende her. Es geht um das bescheidene, arbeitsreiche Leben im Osten und den Traum der jungen Leute, etwas Aufregenderes als das tägliche Einerlei der Eltern zu erleben. Enne träumt davon, Schauspielerin zu werden, am liebsten in Berlin. Die Schwester Suse ist als Kind kränklich und daher einerseits das Sorgenkind der Familie, andererseits reist sie mit gerade einmal zwölf Jahren allein nach Berlin, um dort auf dem Alexanderplatz ihre Lieblingsband zu hören. Dass es dort zu einer Katastrophe kommen würde, war fast zu erwarten.
Helga Bürster hat einen geheimnisvollen und spannenden Familienroman geschrieben, der das Leben in dem hintersten Winkel der DDR beschreibt. Die Rollen der drei Schwestern, das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern und die Prägungen, die sich daraus ergeben, machen den Roman lesenswert.
Das Buch ist im Insel-Verlag erschienen, umfasst 251 Seiten und kostet 23 Euro.
Barbara Raudszus
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