Es gibt Satire, und es gibt bitterböse Satire. Bisweilen wird letztere jedoch durch die Realität überholt, so dass die Satire dagegen geradezu bieder wirkt. Sasha Filipenkos Buch „Die Jagd“ erschien im Jahr 2016 in Moskau auf Russisch, und schon das wäre heute nicht mehr denkbar. Er würde heute nach Veröffentlichung dieses Textes wahrscheinlich auf Nimmerwiedersehen verschwinden.
Zum Verständnis dieses Buches sind einige biographische Fakten wichtig. Filipenko stammt aus Weißrussland, hat zuerst Musik studiert und ist dann zum Journalismus und zur Schriftstellerei gekommen. Er lebt heute in Berlin, weil er in seiner Heimat nach diesem Buch wohl nicht mehr leben würde.
Das Buch bildet die Form der musikalischen Gattung Sonate ab. Die Kapitelüberschriften zitieren daher die einzelnen Sätze und Satzelemente wie „Exposition“, „Durchführung“ oder „Reprise“.
In der Exposition stellt Filipenko die einzelnen Themen, sprich: Personen vor. Den Rahmen bilden zwei Brüder, einer Ich-Erzähler und Cellist, der sich sein Brot irgendwo in Europa verdient, der andere, Lew, eine verkrachte Existenz, der den Abstieg seines Vaters aus dem präsidialen Moskauer Umfeld in Armut und Bedeutungslosigkeit nicht verkraftet hat. Dann ist da die Familie des Moskauer Oligarchen Slawin mit vier Kindern, die es sich an der Cote d´Azure gut gehen lässt und alle Attitüden von Neureichen aufweist. Der Vater verdient sein Geld auf höchst dubiose Art in Moskau.
Der idealistische Journalist Anton Quint – man beachte den musikalisch konnotierten Nachnamen – recherchiert unter anderem zu Slawins Einkommensquellen und hat schon einige unangenehme Einzelheiten veröffentlicht. Quelle ist dessen Sohn, der seinen Vater aus verschiedenen Gründen hasst.
Lew besucht seinen musizierenden Bruder auf seiner Tournee und erzählt ihm sein Leben in Moskau, zuerst als Sportreporter bis hin zum Chefredakteur. Aus seinen jugendlichen Tagen in der Moskauer Oligarchen-Nomenklatura hatte er einen Restbestand von Überheblichkeit bewahrt, der ihm Chancen bei der Tochter eines Zeitungsbesitzer, ebenfalls mit Oligarchen-Stallgeruch, verschafft. Es folgen Liebschaft, Heirat, Chefredakteursposten und europaweites Luxusleben auf Schwiegervaters Kosten. Dann trotz Kind außereheliche Affären – ebenfalls auf Kosten des Schwiegervaters -, Entlarvung und Rauswurf. Am Boden zerstört, trifft er einen alten Kumpel, der ihn als „Mann fürs Grobe“ beim Oligarchen Slawin einstellt.
Jetzt beginnen Lew und sein Kumpel mit einer professionell orchestrierten Jagd auf Anton Quint. Da ein Mord zu viel Aufsehen erregen würde – zumindest noch im Jahr 2016! -, machen die beiden ihm das Leben zur Hölle. Es fängt mit zwei randalierenden und scheinbar saufenden Schauspielern in der Wohnung unter Quint an, die der jungen Familie mit Säugling keine ruhige Minute mehr gönnen. Als Quint das professionell und fast gelassen erträgt, wird die Dosis erhöht und mit herabsetzenden Artikeln in anderen Zeitungen und in (a)sozialen Medien angereichert. Ziel ist nicht der Selbstmord, sondern die Auswanderung Quints, da er dann als vom Westen gesteuerter weil bezahlter Schreiberling denunziert werden kann.
Wir wollen hier nicht all die Gemeinheiten und Schweinereien im wahrsten Sinne des Wortes aufführen, die sich die beiden einfallen lassen, doch am Ende haben sie sich verschätzt, und Quint wird doch noch gewalttätig. Doch Lew quält nicht sein schlechtes Gewissen wegen seiner Skrupellosigkeit, sondern nur der Ärger seines Chefs wegen des ungeplanten Endes der Aktion. Die Geschichte endet dann aus Lews Sicht mit einem Happy End, weil er seine stille Geliebte endlich ins Bett ziehen kann und in Moskau wieder akzeptiert wird. Der nächste Auftrag kommt bestimmt. Gerade dieses scheinbar zynische Ende ist in Wahrheit bitterböse Satire, denn schon im Moskau von 2016 ist der Begriff „Moral“ verboten und es gilt ausschließlich das Recht des Stärkeren. Und wer dagegen anschreiben will, ist nichts anderes als ein lebensmüder Idealist.
Filipenko hat in diesem Buch mit satirischer Schärfe die bodenlose Skrupellosigkeit der heutigen russischen Gesellschaft auf den Punkt gebracht. Allein in dem Journalisten Anton Quint glimmt so etwas wie Verantwortung und Zukunftshoffnung. Formal ist das alles in einen musikalischen Rahmen eingebunden, der jeder Episode das entsprechende Tempo und eine passende Phrasierung verleiht. Vor allem den Pausen und deren – mal wohltuende, mal drohende – Wirkung widmet Filipenko seine Aufmerksamkeit und macht sie sogar zum textlichen Gegenstand.
Der Präsident schwebt bei Filipenko in unerreichbaren Höhen, und seine Anziehungskraft lässt die Höflinge in aufgeregter Erwartung größten pekuniären Glücks um ihn kreisen. Die hoffnungslose Bösartigkeit dieser Gesellschaft lastet Filipenko nicht explizit ihm an, obwohl dieser Vorwurf sich sozusagen als „basso continuo“ durch den ganzen Roman zieht. Doch auf die Idee eines brutalen Kriegs gegen ein „Brudervolk“ ist dieser Präsident im Roman noch nicht gekommen.
Das Buch ist im Diogenes-Verlag erschienen, umfasst 278 Seiten und kostet 23 Euro.
Frank Raudszus
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